Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
wieder seinem Kartoffelpüree zu. »Aber es sieht allmählich so aus, als ob« – er schwenkte seinen Löffel im Kreis herum – »als ob nicht alle hier meine Gegenwart so sehr verärgert. Wir könnten ja vielleicht darüber abstimmen. Ich will gerne gehen, wenn ich hier wirklich nicht erwünscht bin. Wie wäre es, wenn sich die Leute durch Handzeichen dazu äußern würden?«
    »Wenn du unbedingt bleiben willst, mir macht das absolut nichts aus«, sagte Christoff. »Das macht keinen Unterschied. Ich habe hier meine Fakten. Ich habe sie alle hier.« Er hob einen blauen Schnellhefter hoch, den er von irgendwoher hervorgeholt hatte, und klopfte mit den Fingern darauf. »Ich bin mir meiner Sache ganz sicher. Du kannst tun und lassen, was du willst.«
    Dr. Lubanski drehte sich zu den anderen um und zuckte mit den Schultern, womit er zu sagen schien: »Was kann man mit so jemandem schon machen?« Die junge Frau mit den dicken Brillengläsern schaute sofort weg, doch ihre Begleiter schienen höchst verwirrt zu sein, ein oder zwei lächelten sogar scheu zurück.
    »Bitte, Mr. Ryder«, sagte Christoff, »setzen Sie sich und machen Sie es sich gemütlich. Sobald Gerhard zurückkommt, wird er Ihnen Ihr Essen servieren. Also« – er klatschte in die Hände und er nahm den Ton eines Menschen an, der eine Rede vor einem großen Saal hält -, »meine Damen und Herren, zuerst möchte ich mich im Namen aller heute Anwesenden bei Mr. Ryder dafür bedanken, daß er sich bereit erklärt hat, zu uns zu kommen und mit uns zu reden, und das an diesen sicherlich doch sehr geschäftigen Tagen...«
    »Du bist ja wirklich sehr mutig«, rief Dr. Lubanski von hinten. »Kein bißchen eingeschüchtert durch mich, nicht einmal durch Mr. Ryder. Ganz schön mutig, Henri.«
    »Ich bin nicht eingeschüchtert«, gab Christoff zurück, »weil ich hier alle Fakten habe! Fakten sind Fakten! Ich habe alles hier! Die ganzen Beweise! Ja, sogar Mr. Ryder. Jawohl« – er wandte sich an mich -, »sogar ein Mann Ihrer Reputation. Sogar jemand wie Sie muß sich den Fakten beugen!«
    »Tja, das kann ja noch richtig interessant werden«, sagte Dr. Lubanski zu den anderen. »Ein Provinz-Cellist, der vor einem Mr. Ryder Vorträge hält. Na schön, dann laß mal hören. Laß einfach mal hören.«
    Ein oder zwei Sekunden lang zögerte Christoff. Dann schlug er mit einiger Entschlossenheit seinen Hefter auf und sagte: »Wenn ich mit einem einzelnen Fall beginnen dürfte, von dem ich meine, daß er uns mitten in die Kontroverse um die Ringharmonien hineinführt.«
    Während der nächsten Minuten skizzierte Christoff den Hintergrund des Falles eines hiesigen Geschäftsmannes und seiner Familie, er blätterte seinen Hefter durch und verlas einige Zitate und statistische Informationen. Er schien seine Sache recht kompetent vorzubringen, doch da war etwas an seinem Redestil – die unnötige Langsamkeit seines Vortrags, die Art und Weise, in der er manches zwei- oder dreimal erklärte -, das mir bald auf die Nerven fiel. Tatsächlich schien es mir, als habe Dr. Lubanski gar nicht so unrecht. Es hatte tatsächlich etwas Groteskes, wie dieser gescheiterte Provinzmusiker sich anmaßte, mir Vorträge zu halten.
    » Das nennst du also Fakten?« unterbrach Dr. Lubanski plötzlich, als Christoff aus dem Protokoll einer Bürgerkomitee-Sitzung vorlas. »Ha! Henris ›Fakten‹ sind immer sehr interessant, nicht?«
    »Lassen Sie ihn doch ausreden! Lassen Sie ihm doch die Möglichkeit, Mr. Ryder seinen Standpunkt darzulegen!«
    Dies hatte ein junger Mann mit rundlichem Gesicht gesagt, der eine kurze Lederjacke trug. Christoff lächelte ihn beifällig an. Dr. Lubanski hob die Hände und sagte: »Na schön, na schön.«
    »Lassen Sie ihn doch ausreden!« wiederholte der junge Mann mit dem rundlichen Gesicht. »Dann werden wir ja sehen. Wir werden sehen, was Mr. Ryder von dem allen hält. Dann werden wir endgültig Bescheid wissen.«
    Christoff schien etliche Sekunden zu brauchen, den tieferen Sinn dieser Worte in sich aufzunehmen. Zunächst blieb er wie angewurzelt stehen, den Hefter hielt er immer noch in den hocherhobenen Händen. Dann schaute er in die Gesichter um ihn herum, als sehe er sie zum erstenmal. Von überall her aus dem Raum wurden ihm fragende Blicke zugeworfen. Einen Moment lang machte Christoff einen stark angeschlagenen Eindruck. Indem er sich wegdrehte, sagte er flüsternd fast nur zu sich selbst:
    »Das sind tatsächlich alles Fakten. Ich habe lauter Beweise

Weitere Kostenlose Bücher