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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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gesammelt. Sie alle können sich das ansehen, können hier Einsicht nehmen.« Er schaute in seinen Hefter. »Ich wollte die Beweise für Sie nur kurz zusammenfassen. Das ist alles.« Mit einiger Mühe schien er dann seine sichere Haltung wiederzugewinnen. »Mr. Ryder«, sagte er, »wenn Sie nur noch einen kleinen Augenblick Geduld mit mir haben. Ich glaube, alles wird sehr bald schon viel klarer sein.«
    Christoff setzte seine Beweisführung fort, in seiner Stimme schwang eine leichte Anspannung mit, doch ansonsten sprach er so wie vorher. Während er weiterredete, fiel mir ein, wie ich in der vergangenen Nacht auf Stunden kostbaren Schlafes verzichtet hatte, um meine Untersuchungen die hiesigen Gegebenheiten betreffend fortzusetzen. Wie ich trotz meiner großen Müdigkeit in dem Kino gesessen und mit den führenden Bürgern der Stadt die Probleme durchgesprochen hatte. Christoffs wiederholte Anspielungen auf meine Unwissenheit – in diesem Augenblick setzte er an zu einer längeren Abschweifung, um einen Sachverhalt zu erklären, der mir vollkommen klar war – brachten mich langsam, aber sicher immer mehr in Wut.
    Mit meiner Ungeduld stand ich, wie es schien, allerdings nicht allein da. Etliche andere in dem Raum bewegten sich unbehaglich hin und her. Ich merkte, daß die junge Frau mit den dicken Brillengläsern von Christoffs Gesicht auf meines schaute, und mehrmals sah es so aus, als wollte sie ihn unterbrechen. Doch schließlich fiel ihm ein Mann mit kurzgeschnittenem Haar ins Wort, der irgendwo hinter mir saß.
    »Einen Moment, bitte. Nur einen Moment. Bevor wir fortfahren, lassen Sie uns eine Sache klarstellen. Ein für allemal.«
    Aus dem hinteren Teil des Cafés war wieder Dr. Lubanskis Auflachen zu hören. »Claude und seine gefärbten Dreiklänge! Das Problem ist immer noch nicht gelöst?«
    »Claude«, sagte Christoff, »das ist jetzt wohl kaum die Zeit...«
    »Doch! Jetzt, wo Mr. Ryder hier ist, will ich das geklärt haben.«
    »Claude, das ist jetzt wohl kaum die Zeit, dieses Problem wieder anzusprechen. Ich bringe hier Ausführungen vor, um zu beweisen...«
    »Vielleicht ist es ja ganz unbedeutend. Aber lassen Sie uns das doch klären. Mr. Ryder, Mr. Ryder, ist es wirklich wahr, daß gefärbte Dreiklänge ungeachtet des Kontextes einen Gefühlswert haben? Glauben Sie das?«
    Ich spürte, daß die Aufmerksamkeit aller im Raum sich auf mich konzentrierte. Christoff warf mir schnell einen Blick zu, so etwas wie eine mit Furcht gemischte Bitte. Doch in Anbetracht der Ernsthaftigkeit der Frage – ganz zu schweigen von Christoffs anmaßendem Verhalten bis zu diesem Moment – sah ich keinen Grund, nicht frank und frei zu antworten. Also sagte ich:
    »Ein gefärbter Dreiklang an sich hat keinerlei gefühlsmäßige Eigenschaften. Tatsächlich kann seine gefühlsmäßige Färbung nicht nur je nach Kontext, sondern auch je nach Volumen beträchtlich variieren. Das ist meine persönliche Meinung.«
    Keiner sagte ein Wort, doch die heftige Wirkung meiner Erklärung war deutlich zu spüren. Einer nach dem anderen richteten die Anwesenden strenge Blicke auf Christoff – der währenddessen so tat, als sei er in seinen Hefter vertieft. Leise sagte dann der Mann, der Claude hieß:
    »Ich habe es gewußt. Ich habe es immer gewußt.«
    »Aber er hat Sie davon überzeugt, daß Sie unrecht hatten«, sagte Dr. Lubanski. »Er hat sie so lange eingeschüchtert, bis Sie glaubten, daß Sie unrecht hatten.«
    »Was hat das denn überhaupt damit zu tun?« schrie Christoff. »Schauen Sie, Claude, Sie haben uns vollkommen vom Thema abgebracht. Und Mr. Ryder hat doch so wenig Zeit. Wir müssen zum Fall Offenbach zurück.«
    Doch Claude schien ganz in Gedanken versunken. Schließlich sah er sich um und schaute zu Dr. Lubanski hinüber, der nickte und voller Ernst zurücklächelte.
    »Mr. Ryder hat doch so wenig Zeit«, sagte Christoff wieder. »Also wenn Sie alle jetzt nichts dagegen haben, möchte ich gern versuchen, meine Beweisführung zusammenzufassen.«
    Christoff begann, das aufzulisten, was er für die entscheidenden Punkte in der Tragödie der Familie Offenbach hielt. Er gab sich den Anschein von Unbekümmertheit, doch inzwischen hatten alle deutlich gemerkt, daß er völlig aus der Bahn geraten war. Wie dem auch sei, etwa von dem Moment an beachtete ich ihn gar nicht weiter, denn seine Bemerkung über meine knappe Zeit ließ mich plötzlich an Boris denken, der in diesem kleinen Café auf mich wartete.
    Eine

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