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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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beträchtliche Zeitspanne war, wie ich bemerkte, seit dem Augenblick vergangen, als ich ihn dort zurückgelassen hatte. Vor meinem inneren Auge erschien das Bild des kleinen Jungen, der kurz nach meinem Fortgehen in seiner Ecke vor einem Glas und dem Käsekuchen saß und immer noch voller Vorfreude an den vor ihm liegenden Ausflug dachte. Ich sah, wie er fröhlich zu den anderen Gästen des Cafés in dem sonnigen Innenhof hinausschaute und wie er dabei dachte, daß auch er bald dort draußen sein und sich auf den Weg machen würde. Er würde sich wieder einmal an die alte Wohnung erinnern, an den kleinen Schrank in der Ecke des Wohnzimmers, wo er, wie er mit wachsender Zuversicht annahm, die Schachtel mit der Nummer Neun gelassen hatte. Wenn dann die Minuten vergingen, würden sich die Zweifel, die immer schon irgendwo gelauert hatten, Zweifel, die er bisher so gründlich vergraben hatte, wieder an die Oberfläche schleichen. Aber noch eine ganze Weile würde es Boris gelingen, frohen Mutes zu sein. Irgend etwas hätte mich einfach nur unerwarteterweise aufgehalten. Oder vielleicht war ich irgendwohin gegangen, um etwas für ein Picknick zu besorgen, das wir auf den Ausflug mitnehmen würden. Auf jeden Fall war noch reichlich vom Tag übriggeblieben. Dann würde die Kellnerin, die mollige junge Frau skandinavischen Typs, ihn fragen, ob er sonst noch etwas wünsche, und dabei eine Spur Besorgnis zeigen, die Boris nicht entgehen würde. Und er würde noch einmal so tun, als machte er sich überhaupt keine Sorgen, und würde vielleicht in gespielter Tapferkeit noch ein Glas Milchshake bestellen. Doch die Minuten würden verrinnen. Boris würde bemerken, daß Gäste draußen im Innenhof, die lange nach ihm gekommen waren, ihre Zeitung zusammenfalteten, aufstanden und gingen. Er würde den Himmel sich bewölken und den Mittag in den Nachmittag übergehen sehen. Er würde wieder an die alte Wohnung denken, die er so gemocht hatte, an den kleinen Schrank im Wohnzimmer, an die Nummer Neun, und allmählich würde er sich, während er in den Resten des Käsekuchens herumstocherte, mit dem Gedanken abfinden, daß er wieder einmal enttäuscht würde, daß wir den Ausflug doch nicht machen würden.
    Verschiedene Stimmen erhoben sich laut rufend um mich herum. Ein junger Mann in grünem Anzug war aufgestanden und versuchte, Christoff gegenüber ein Argument anzubringen, während mindestens drei weitere mit den Fingern gestikulierten, um etwas besonders zu betonen.
    »Aber das ist doch völlig belanglos!« rief Christoff, die Unruhe übertönend. »Und wie auch immer, es ist doch nur Mr. Ryders persönliche Meinung ...«
    Das ließ einen Ansturm gegen ihn aufbranden, denn fast alle Anwesenden versuchten gleichzeitig, etwas darauf zu erwidern. Doch schließlich gelang es Christoff, sie alle niederzuschreien.
    »Ja! Ja! Ich weiß ganz genau, wer Mr. Ryder ist! Aber die hiesigen Gegebenheiten, die hiesigen Gegebenheiten, das ist etwas vollkommen anderes! Er weiß doch noch gar nichts von unseren besonderen Gegebenheiten! Ich dagegen... ich habe hier...«
    Der Rest seiner Erklärung ging in dem Tumult unter, doch Christoff hob den blauen Hefter hoch über den Kopf und schwenkte ihn.
    »Ganz schön mutig! Ganz schön mutig!« rief Dr. Lubanski lachend von hinten.
    »Bei allem Respekt, Mr. Ryder« – Christoff sprach mich jetzt direkt an – »bei allem Respekt, es wundert mich, daß Sie nicht mehr Interesse daran haben, etwas über die Gegebenheiten hier zu erfahren. Tatsächlich wundert es mich, Ihre Könnerschaft will ich einmal ganz beiseite lassen, es wundert mich, daß Sie so voreilige Schlüsse ziehen...«
    Wieder erhob sich Protestgeschrei, diesmal noch wütender als vorher.
    »Zum Beispiel...«, rief Christoff, den Lärm übertönend. »Zum Beispiel hat es mich doch sehr gewundert, daß Sie der Presse gestattet haben, Sie vor dem Sattler-Monument aufzunehmen!«
    Zu meiner Bestürzung herrschte plötzlich völliges Schweigen.
    »Jawohl!« Christoff war offenbar entzückt angesichts der Wirkung, die er hervorgerufen hatte. »Jawohl! Ich habe ihn gesehen! Als ich ihn vorhin abgeholt habe. Er stand mitten vor dem Sattler-Monument. Hat gelächelt und darauf gezeigt!«
    Das erschütterte Schweigen dauerte an. Einige Anwesende schienen verlegen zu werden, während mich andere – einschließlich der jungen Frau mit den dicken Brillengläsern – fragend ansahen. Ich lächelte und wollte gerade eine Bemerkung machen, als Dr. Lubanskis

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