Die Ungetroesteten
Stimme, die jetzt beherrscht und gebieterisch klang, von hinten zu hören war:
»Wenn Mr. Ryder sich entschließt, eine solche Geste zu machen, kann das nur eines bedeuten: Daß das Ausmaß unserer Verirrung sogar noch größer ist, als wir vermutet hatten.«
Alle Augen wandten sich ihm zu, als er aufstand und ein paar Schritte näher zu der Versammlung trat. Dr. Lubanski blieb stehen und neigte den Kopf zur Seite, als lausche er auf entfernte Geräusche auf der Straße. Dann fuhr er fort:
»Seine Botschaft muß jeder von uns sorgfältig prüfen und sich zu Herzen nehmen. Das Sattler-Monument! Natürlich, er hat ja recht! Damit geht er nicht zu weit, keineswegs! Seht euch doch nur an, wie ihr immer noch versucht, euch an Henris närrische Ideen zu klammern! Sogar diejenigen unter uns, die sie als das erkannt haben, was sie sind, sogar wir; tja, die Wahrheit ist, wir haben uns davon nicht aus unserer Selbstzufriedenheft reißen lassen. Das Sattler-Monument! Ja, das ist es. Diese Stadt befindet sich mitten in der Krise. Mitten in der Krise!«
Es war erfreulich, daß Dr. Lubanski das anmaßende Element in Christoffs Erklärung sofort deutlich herausgestellt und dabei die entschiedene Botschaft betont hatte, die ich der Stadt hatte übermitteln wollen. Dennoch war meine Empörung Christoff gegenüber inzwischen beträchtlich, und ich fand, es sei höchste Zeit, ihm einen Dämpfer aufzusetzen. Doch die Anwesenden hatten wieder angefangen, alle auf einmal zu schreien. Der Mann, der Claude hieß, schlug mehrfach mit der Faust auf den Tisch, um einem grauhaarigen Mann mit Hosenträgern und schmuddeligen Stiefeln etwas klarzumachen. Mindestens vier Leute schrien aus verschiedenen Ecken des Raumes auf Christoff ein. Chaos drohte auszubrechen, und ich hielt diesen Zeitpunkt für durchaus geeignet, mich zu verabschieden. Doch als ich aufstand, erschien plötzlich die junge Frau mit den dicken Brillengläsern vor mir.
»Bitte helfen Sie uns, Mr. Ryder«, sagte sie. »Lassen Sie uns der Sache auf den Grund gehen. Hat Henri recht, wenn er glaubt, daß wir die Kreisdynamik bei Kazan um keinen Preis aufgeben dürfen?«
Sie hatte nicht laut gesprochen, doch ihre Stimme hatte einen durchdringenden Klang. Alle im Raum hatten ihre Frage gehört und wurden sofort ruhig. Einige ihrer Begleiter warfen ihr prüfende Blicke zu, doch sie schaute herausfordernd in die Runde.
»Nein, wirklich, ich will das jetzt wissen«, sagte sie. »Das hier ist eine einmalige Gelegenheit. Die dürfen wir nicht vorübergehen lassen. Ich will das jetzt wissen. Bitte, Mr. Ryder. Helfen Sie uns.«
»Aber ich habe doch die Fakten«, murmelte Christoff kläglich. »Hier. Ich habe doch alles.«
Niemand beachtete ihn mehr, alle Blicke waren wieder auf mich gerichtet. Ich begriff, daß ich meine nächsten Worte mit Bedacht wählen mußte und schwieg einen Augenblick. Dann sagte ich:
»Meine Meinung ist, daß formalisierte Beschränkungen jemandem wie Kazan nie guttun. Weder in Gestalt der Kreisdynamik noch in Gestalt einer Doppelstrich-Struktur. Da gibt es einfach zu viele Schichten, zu viele Gefühlslagen, vor allem in den späteren Werken.«
Fast körperlich spürte ich die Welle von Respekt auf mich zurollen. Der Mann mit dem rundlichen Gesicht sah mich mit einem der Ehrfurcht nahekommenden Ausdruck an. Eine Frau in scharlachrotem Anorak murmelte: »Das ist es, das ist es«, als hätte ich gerade etwas ausgesprochen, das sie schon seit Jahren verzweifelt zu formulieren versucht hatte. Der Mann, der Claude hieß, war aufgestanden und machte jetzt ein paar Schritte auf mich zu und nickte heftig. Auch Dr. Lubanski nickte, aber langsam und mit geschlossenen Augen, als wollte er sagen: »Ja, ja, endlich ist jemand gekommen, der sich wirklich auskennt.« Doch die junge Frau mit den dicken Brillengläsern war ganz ruhig geblieben und schaute mich weiterhin aufmerksam an.
»Ich habe Verständnis«, so fuhr ich fort, »für die Versuchung, Zuflucht zu solchen Mitteln zu nehmen. Da gibt es diese urtümliche Angst vor einer Musik, die die Fähigkeiten des Musikers übersteigt. Doch die Antwort besteht sicherlich darin, sich der Herausforderung zu stellen, und nicht darin, Zuflucht zu Beschränkungen zu nehmen. Gewiß, die Herausforderung könnte zu gewaltig sein, und in dem Fall besteht die Antwort darin, den Kazan ganz und gar sein zu lassen. Allerdings sollte man in keinem Fall aus seinen Grenzen eine Tugend machen.«
Bei dieser letzten Bemerkung schienen viele
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