Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
Sie.«
    »Sie können doch nicht darauf hoffen, Ihren Jungen ewig von allem abzuschirmen, verstehen Sie doch. Wie alt ist er denn? So jung sieht er gar nicht mehr aus. Es ist gar nicht gut, sie allzusehr zu behüten. Er muß doch mit der Welt klarkommen, mit all ihren Fehlern und Mängeln...«
    »Das muß er doch jetzt noch nicht! Jetzt doch noch nicht! Außerdem ist es mir ganz egal, was Sie denken! Was geht Sie das überhaupt an? Das ist mein Junge, ich trage für ihn die Verantwortung, ich dulde dieses Gerede nicht...«
    »Ich verstehe gar nicht, wieso Sie sich so aufregen. Ich unterhalte mich doch nur mit Ihnen. Ich habe Ihnen doch nur erzählt, was wir von der ganzen Sache gehalten haben. Das waren keine schlechten Menschen, und es ist auch nicht so, daß wir sie nicht mochten, aber manchmal ist es einfach zuviel geworden. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich nehme an, es klingt immer schlimmer, wenn es so durch die Wand kommt. Schauen Sie mal, es hat doch keinen Sinn, so etwas vor einem Jungen in dem Alter zu verbergen. Sie kämpfen auf verlorenem Posten. Und was für einen Sinn...«
    »Es ist mir egal, was Sie denken! Das hat alles noch ein paar Jahre Zeit! Er wird, er wird von solchen Sachen nichts hören...«
    »Das ist dumm von Ihnen. Diese Sachen, von denen ich da rede, so geht es eben zu im Leben. Selbst meine Frau und ich, na ja, wir hatten auch unsere Höhen und Tiefen. Deshalb habe ich so mit ihm gefühlt. Ich weiß genau, wie es ist, dieses erste Mal, wenn man plötzlich merkt...«
    »Ich warne Sie! Ich werde dieses Gespräch beenden! Ich warne Sie!«
    »Aber ich habe ja auch nie getrunken. Das ändert wirklich alles. Viel wegzugehen ist ja eine Sache, aber so zu trinken...«
    »Ich warne Sie jetzt zum letzten Mal! Wenn Sie so weitermachen, gehe ich!«
    »Er konnte grausam sein, wenn er was getrunken hatte. Nicht körperlich gewalttätig, das nicht, aber wir haben eine ganze Menge gehört, er konnte ganz schön grausam sein. Wir konnten nicht immer alles verstehen, aber wir haben dann oft im Dunkeln gesessen und zugehört...«
    »Jetzt reicht es! Jetzt reicht es aber wirklich! Ich habe Sie gewarnt! Jetzt gehe ich! Ich gehe!«
    Ich drehte dem Mann den Rücken zu und lief die Treppe hinunter, dorthin, wo Boris stand. Ich nahm seinen Arm und fing an zu laufen, aber noch im Laufen hörte ich, daß der Mann begonnen hatte, uns hinterherzubrüllen:
    »Sie stehen auf verlorenem Posten! Einmal wird er eh herausfinden, wie das alles so läuft! So ist eben das Leben! Da ist doch nichts Schlimmes dabei! Das ist eben einfach das richtige Leben!«
    Boris schaute neugierig zurück, und ich mußte ihn fest am Arm ziehen. Eine Weile liefen wir so weiter. Mehr als einmal spürte ich, daß Boris versuchte, langsamer zu werden, aber ich lief immer weiter, ich wollte ganz sichergehen und die Gefahr abwenden, daß der Mann uns folgte. Als wir dann endlich stehenblieben, mußte ich feststellen, daß ich vollkommen außer Atem war. Ich stolperte zu der Mauer hinüber – sie war beunruhigend niedrig, sie reichte mir bis gerade oberhalb der Taille -, ich stützte meine Ellenbogen auf die Mauer und beugte mich vor. Ich schaute zu dem See hinüber, zu den Hochhausblocks dahinter, zu dem fahlen, weitreichenden Himmel und wartete darauf, daß meine Brust aufhörte, sich heftig zu heben und zu senken.
    Nach einer Weile wurde mir bewußt, daß Boris neben mir stand. Er hatte mir den Rücken zugewandt und fummelte an einem losen Mauerstück am oberen Rand der Mauer herum. Allmählich war mir das, was sich da gerade zugetragen hatte, ein wenig peinlich, und mir wurde klar, daß ich ihm irgendeine Erklärung bieten mußte. Ich suchte immer noch nach etwas, das ich sagen könnte, als Boris, immer noch mit dem Rücken zu mir, murmelte:
    »Der war wohl ziemlich verrückt, was?«
    »Ja, Boris, total verrückt. Fast schon geistesgestört.«
    Boris fummelte immer noch an der Mauer herum. Dann sagte er: »Das macht jetzt auch nichts mehr. Wir brauchen die Nummer Neun nicht zu holen.«
    »Wenn dieser Mann nicht gewesen wäre, Boris...«
    »Das macht nichts. Das macht jetzt nichts mehr.« Dann drehte sich Boris zu mir um und lächelte: »Bis jetzt ist das jedenfalls ein prima Tag gewesen«, sagte er fröhlich.
    »Es hat dir gefallen?«
    »Es war prima. Die Busfahrt, alles. Es war wirklich prima.«
    Ganz plötzlich hatte ich das Bedürfnis, ihn in die Arme zu nehmen, aber dann dachte ich, eine solche Geste würde ihn verwirren, vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher