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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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sogar beunruhigen. Schließlich fuhr ich ihm sacht durchs Haar und betrachtete dann wieder das Panorama.
    Der Wind war nicht mehr so unangenehm, und einen Augenblick lang standen wir schweigend Seite an Seite und schauten auf die Anlage hinaus. Dann sagte ich:
    »Ich weiß, Boris, du wunderst dich sicher über vieles. Ich meine, wieso können wir uns nicht einfach irgendwo niederlassen und ganz in Ruhe leben, wir drei. Du fragst dich doch, das weiß ich bestimmt, du fragst dich doch sicher, wieso ich andauernd weg muß, obwohl sich deine Mutter darüber so aufregt. Also, du solltest wissen, warum ich ständig diese Tourneen mache, es hat nichts damit zu tun, daß ich dich vielleicht nicht liebhabe oder nicht mit dir zusammen sein möchte. In gewisser Weise wünsche ich mir nichts sehnlicher, als zu Hause bei dir und Mutter zu leben, in einer Wohnung wie der da drüben zu leben, oder auch woanders. Aber siehst du, so einfach ist das nicht. Ich muß diese Tourneen machen, weil – tja, siehst du, man kann nie wissen, wann genau es passiert. Ich meine, diese spezielle, diese ganz besonders wichtige Tournee, die Tournee, die ganz, ganz wichtig ist, nicht nur für mich, sondern für alle, für alle Menschen auf der ganzen Welt. Wie soll ich dir das erklären, Boris, du bist ja noch so klein. Siehst du, es wäre so einfach, sie zu verpassen. Nur einmal zu sagen, nein, ich gehe nicht, ich bleibe einfach hier. Und erst später würde ich dann erfahren, daß es diese Tournee gewesen ist, diese ganz, ganz wichtige Tournee. Und weißt du, wenn man die einmal verpaßt hat, dann gibt es kein Zurück mehr, es wäre einfach zu spät. Ich könnte hinterher noch so viele Tourneen machen, das hätte keinen Zweck mehr, es wäre zu spät, und all diese Jahre, die ich damit zugebracht habe, wären umsonst gewesen. Ich habe das bei anderen Leuten mitbekommen, Boris. Jahr für Jahr sind sie auf Tournee gegangen, und dann werden sie allmählich müde, vielleicht auch ein wenig träge. Aber gerade in solchen Augenblicken kommt die eine Chance. Und die verpassen sie. Sie sind dann ganz verbittert und unglücklich. Und wenn sie dann sterben, sind sie seit langem schon gebrochen. Siehst du, Boris, daran liegt es. Deshalb muß ich noch eine Weile so weitermachen, muß ständig auf Tournee gehen. Ich sehe ja ein, das macht es für uns alle ziemlich schwierig. Aber wir müssen tapfer sein und Geduld haben, wir drei. Es wird nicht mehr lange dauern, da bin ich ganz sicher. Sie wird bald kommen, diese eine, diese ganz wichtige Tournee, dann wird das alles vorbei sein, dann werde ich mich entspannen und ausruhen können. Ich könnte so lange zu Hause bleiben, wie ich wollte, das wäre dann egal, wir könnten viel Spaß haben, nur wir drei. Wir könnten all das machen, was bisher nicht möglich war. Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, das weiß ich bestimmt, aber wir müssen einfach noch eine Weile Geduld haben. Ich hoffe, Boris, du verstehst, was ich dir sage.«
    Boris schwieg eine ganze Weile. Dann richtete er sich plötzlich auf und sagte mit strenger Stimme: »Geht ganz ruhig weg. Ihr alle.« Dann lief er ein paar Schritte weg und fing wieder mit seinen Karatesprüngen an.
    Die nächsten paar Minuten blieb ich gegen die Mauer gelehnt stehen, schaute ins Weite und hörte darauf, wie Boris wütend vor sich hin zischelte. Als ich dann wieder zu ihm schaute, sah ich, daß er die Phantasievorstellung in Szene setzte, die er während der vergangenen Wochen wieder und immer wieder durchgespielt hatte. Die Tatsache, daß wir dem ursprünglichen Schauplatz seiner Phantasie so nahe waren, hatte die Aussicht, das Ganze noch einmal durchzuspielen, höchstwahrscheinlich unwiderstehlich gemacht. Denn das Szenario sah vor, daß Boris und sein Großvater sich gegen eine Straßengang wehrten, und zwar genau auf diesem Gehweg, direkt vor der alten Wohnung.
    Ich sah zu, wie er sich, inzwischen mehrere Meter entfernt, angestrengt bewegte, und ich nahm an, daß er zu dem Teil kam, wo er und sein Großvater, Schulter an Schulter stehend, sich auf einen weiteren Angriff vorbereiteten. Der Boden würde schon von Bewußtlosen übersät sein, doch einige der ausdauerndsten Bandenmitglieder würden sich jetzt zu einem erneuten Angriff bereitmachen. Boris und sein Großvater würden ruhig Seite an Seite warten, während sich die Bandenmitglieder in der Dunkelheit des Gehweges Kampfstrategien zuflüsterten. In diesem Szenario, wie auch in allen anderen, war Boris auf

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