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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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an der anderen Seite des Sees entlanggingen – ein Mann mit Hund, eine Frau mit Kinderwagen -, doch offensichtlich hielt irgend etwas an der Atmosphäre die Leute in den Wohnungen. Ganz sicher war das Wetter, darauf hatte uns schon der Busfahrer warnend hingewiesen, dem Aufenthalt im Freien nicht gerade förderlich. Sogar während Boris und ich einfach nur hier standen, fegte ein bitterkalter Wind vom Wasser her auf uns zu.
    »Tja, Boris«, sagte ich, »wir machen uns wohl besser auf den Weg.«
    Der kleine Junge schien seine ganze Begeisterung verloren zu haben. Mit leerem Blick starrte er auf den See und rührte sich nicht. Ich drehte mich zu dem Wohnblock hinter uns um, und ich versuchte, einen gewissen Schwung in meinen Schritt zu legen, aber dann fiel mir ein, daß ich ja gar nicht wußte, wo genau in dieser ungeheuren Weite unsere Wohnung lag.
    »Wieso gehst du nicht einfach voran, Boris? Na komm schon, was ist denn los?«
    Boris seufzte, dann setzte er sich in Bewegung. Ich folgte ihm mehrere Treppenläufe aus Beton hinauf. Einmal, als wir gerade um die Ecke bogen, um die nächste Treppe zu erklimmen, stieß er plötzlich einen Schrei aus und erstarrte in kriegerischer Pose. Ich erschrak, sah aber gleich, daß es da außer in der Phantasie des Jungen keinen Angreifer gab. Ich sagte einfach nur:
    »Fein, Boris.«
    Von da an wiederholte er Schrei und Pose jedesmal, bevor wir einen weiteren Treppenlauf in Angriff nahmen. Zu meiner Erleichterung – ich geriet allmählich außer Atem – führte uns Boris von den Treppen weg auf einen Gehweg. Von diesem höhergelegenen Aussichtspunkt war die Nierenform des Sees noch weit augenfälliger. Der Himmel war von einem stumpfen Weiß, und obwohl der Gehweg überdacht war – es mußte zwei oder drei weitere geben, die direkt über uns verliefen -, bot er kaum Schutz, die Windstöße fegten mit brutaler Gewalt über uns hinweg. Zu unserer Linken lagen die Wohnungen, eine Reihe von kurzen Betontreppen verband den Gehweg mit dem Hauptgebäude wie kleine Brücken über einem Burggraben. Einige Treppen führten zu Wohnungstüren hinauf, während andere hinunterführten. Während wir weitergingen, schaute ich prüfend auf jede dieser Türen, aber als nach einigen Minuten keine von ihnen auch nur die entfernteste Erinnerung in mir wachgerufen hatte, gab ich auf und schaute auf den See hinaus.
    Inzwischen war Boris entschlossen einige Schritte vorausgelaufen, seine Vorfreude auf unsere Unternehmung war offenbar zurückgekehrt. Er murmelte vor sich hin, und je weiter wir gingen, desto mehr schien sein Gemurmel an Intensität zu gewinnen. Dann fing er an, beim Gehen zu springen, und machte Karateschläge in die Luft, und das Geräusch, das entstand, wenn seine Füße wieder aufkamen, geriet zu einem Echo um uns herum. Doch er schrie nicht mehr, wie er das noch auf den Treppen getan hatte, und da wir bis jetzt auf dem Gehweg noch keinem einzigen Menschen begegnet waren, fand ich, es gebe keinen Grund, ihn davon abzuhalten.
    Nach einer Weile sah ich zufällig auf den See hinunter und war erstaunt über die völlig neue Perspektive. Erst da wurde mir klar, daß der Gehweg die ganze Strecke um das Anwesen herum eine sachte Kreisbewegung beschrieb. Es war sehr wohl möglich, daß wir endlos im Kreis herumgingen. Ich beobachtete Boris, der vor mit weiterlief und dabei unermüdlich seine Possen vollführte, und ich fragte mich, ob er den Weg zu der Wohnung tatsächlich besser kannte als ich. Nun wurde mir klar, daß ich die Dinge keineswegs gut durchdacht hatte. Ich hätte mir vorher wenigstens die Mühe machen sollen, mit den neuen Mietern der Wohnung in Kontakt zu treten. Wenn man so darüber nachdachte, gab es schließlich keinen Grund, weshalb sie besonders daran interessiert sein sollten, uns gastlich aufzunehmen. Was diese ganze Expedition betraf, befiel mich allmählich Pessimismus.
    »Boris«, rief ich zu ihm hinüber, »ich hoffe, du paßt auch auf. Wir wollen doch nicht vorbeilaufen.«
    Er schaute sich zu mir um, ohne von seinem wütenden Gemurmel abzulassen, dann lief er noch ein Stück weiter vor und begann wieder mit seinen Karatesprüngen.
    Schließlich kam es mir so vor, als seien wir schon übermäßig weit gelaufen, und als ich wieder zu dem See hinunterschaute, sah ich, daß wir mindestens einen vollen Kreis beschrieben hatten. Boris murmelte immer noch eifrig vor sich hin.
    »Also Moment mal«, rief ich ihm zu. »Warte doch, Boris.«
    Er blieb stehen und warf mir einen

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