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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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unbestimmte Weise älter. Nicht ganz erwachsen – das würde alles in so weite Ferne rücken und außerdem Probleme mit sich bringen, was das Alter seines Großvaters betraf -, doch irgendwie alt genug, um das notwendige Maß physischer Kraft glaubwürdig zu machen.
    Boris und Gustav würden den Bandenmitgliedern genug Zeit zugestehen, um sich zu formieren. Wenn dann die Welle kam, würden Großvater und Enkel, ein perfekt eingespieltes Team, mit den von allen Seiten auf sie einstürmenden Angreifern gründlich aufräumen. Schließlich wäre die Attacke vorbei – doch nein, ein letztes Bandenmitglied könnte eine furchtbare Klinge schwingend aus dem Dunkel hervorspringen. Gustav, der ihm am nächsten steht, würde ihm einen schnellen Schlag gegen den Hals versetzen, und der Kampf würde endlich vorbei sein.
    Einen stillen Moment lang würden Boris und sein Großvater die überall um sie herum verstreut Liegenden betrachten. Dann würde Gustav seinen erfahrenen Blick ein letztes Mal über den Schauplatz schweifen lassen und nicken, woraufhin die beiden sich mit dem Gesichtsausdruck von Männern umdrehen würden, die eine Arbeit erledigt haben, die sie tun mußten, die ihnen aber keinen Spaß gemacht hat. Sie würden die kleine Treppe zur Tür der alten Wohnung hinaufgehen, noch einen letzten Blick auf die besiegten Männer werfen – von denen einige mittlerweile angefangen hätten zu stöhnen oder wegzukriechen -, bevor sie die Wohnung betreten.
    »Alles in Ordnung jetzt«, würde Gustav an der Tür verkünden. »Sie sind weg.«
    Sophie und ich würden dann nervös in den Flur hinauskommen. Boris, der hinter seinem Großvater die Wohnung beträte, würde hinzufügen: »Aber es ist noch nicht ganz vorbei. Sie werden noch einmal angreifen. Vielleicht vor Tagesanbruch.«
    Diese Einschätzung der Situation, die für Großvater und Enkel so offensichtlich wäre, daß sie sich nicht einmal hätten abstimmen müssen, würde von Sophie und mir voller Angst aufgenommen werden.
    »Nein, ich ertrage das nicht mehr!« würde Sophie jammern und dann zu schluchzen anfangen. Ich würde sie in den Armen halten und versuchen, sie zu trösten, doch auch meine Züge wären verzerrt. Angesichts dieses kläglichen Anblicks würden Boris und Gustav nicht die geringste Spur von Geringschätzung zeigen. Gustav würde mir beruhigend eine Hand auf die Schulter legen und sagen: »Mach dir keine Sorgen. Boris und ich sind ja hier. Und nach diesem letzten Angriff wird dann endgültig Schluß sein.«
    »Das stimmt«, würde Boris bestätigen. »Noch diesen einen Kampf, mehr stehen sie nicht durch.« Dann würde er sich zu Gustav umdrehen und sagen: »Vielleicht, Großvater, versuche ich beim nächstenmal wieder, sie zur Vernunft zu bringen. Ihnen noch eine letzte Chance zu geben, sich zurückzuziehen.«
    »Darauf werden sie nicht hören«, würde Gustav erwidern und bedächtig den Kopf schütteln. »Aber du hast recht. Wir sollten ihnen noch eine letzte Chance geben.«
    Von Furcht überwältigt würden Sophie und ich uns noch tiefer in die Wohnung zurückziehen, und wir würden einer im Arm des anderen weinen. Boris und Gustav würden sich anschauen, erschöpft seufzen, dann den Riegel der Vordertür aufsperren und hinausgehen.
    Sie würden den Gehweg dunkel, ruhig und leer vorfinden.
    »Dann können wir genausogut ein bißchen schlafen«, würde Gustav sagen. »Du legst dich zuerst hin, Boris. Ich wecke dich, wenn ich sie kommen höre.«
    Boris würde nicken und sich auf die oberste Stufe der Treppe setzen, er würde den Rücken gegen die Vordertür lehnen und sofort einschlafen.
    Ein wenig später eine Berührung an seinem Arm, und er würde im Handumdrehen hellwach sein und aufspringen. Sein Großvater würde bereits auf die Bandenmitglieder starren, die sich vor ihnen auf dem Gehweg gesammelt hätten. Sie würden zahlreicher sein als je zuvor, denn die letzte Auseinandersetzung hätte sie gezwungen, aus den finstersten Ecken der Stadt sämtliche Kräfte zu mobilisieren. Jetzt würden sie alle da sein, sie würden zerrissene Lederhosen, Armeejacken, mörderische Gürtel tragen und hätten Eisenstangen und Fahrradketten bei sich – doch ihr eigener Ehrenkodex hätte es ihnen nicht gestattet, Gewehre mitzubringen. Boris und Gustav würden langsam die Treppe hinuntergehen und sich auf sie zubewegen, auf der zweiten oder dritten Stufe würden sie vielleicht stehenbleiben. Dann würde Boris auf ein Zeichen seines Großvaters hin zu sprechen

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