Die Ungetroesteten
Vaters es uns ermöglichte, in eine bessere Gegend zu ziehen. Für mich als Neunjährigen hatte das Haus bald schon nicht nur eine aufregende Veränderung, sondern auch eine Hoffnung verkörpert, die Hoffnung darauf, daß sich ein neues, glückliches Kapitel unseres Lebens entfalten würde.
»Da werden Sie keinen mehr antreffen«, hörte ich die Stimme eines Mannes hinter mir. Ich richtete mich auf und sah, daß der Mann, der da gesprochen hatte, aus der Nachbarwohnung getreten war. Er stand vor seiner Wohnungstür oben an einer Treppe ähnlich der, auf der ich stand. Der Mann war etwa fünfzig und glich mit seinen groben Gesichtszügen einer Bulldogge. Er war ungepflegt, und auf seinem T-Shirt zeichnete sich über der Brust ein feuchter Fleck ab.
»Ach«, sagte ich, »die Wohnung steht also leer?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Vielleicht kommen sie ja auch zurück. Meine Frau und ich, wir haben das gar nicht gern, eine leerstehende Wohnung neben uns, aber nach all dem Ärger sind wir richtig erleichtert, das kann ich Ihnen sagen. Wir sind ja wirklich verträgliche Leute. Aber nach all dem, na ja, da ist es uns schon viel lieber so, wie es jetzt ist. Mit der leeren Wohnung.«
»Aha. Sie steht also schon eine ganze Weile leer. Ein paar Wochen? Ein paar Monate?«
»Ach, mindestens schon einen Monat. Sie kommen ja womöglich zurück, aber wenn nicht, wäre es uns auch egal. Verstehen Sie mich nicht falsch, manchmal haben sie mir ja direkt leid getan. Wir sind ja wirklich verträgliche Leute. Und wir haben selbst auch so unsere Probleme gehabt. Aber wenn es andauernd so geht, tja, dann will man sie eben einfach loswerden. Leer ist uns die Wohnung dann schon lieber.«
»Aha. Es hat also viel Ärger gegeben.«
»O ja, allerdings. Ich will nicht ungerecht sein, Gewalttätigkeiten hat es wohl keine gegeben. Aber trotzdem, wenn man dauernd hören mußte, wie sie sich bis spät in die Nacht angeschrien haben, das ist wirklich sehr ärgerlich gewesen.«
»Entschuldigung, aber sehen Sie…« Ich ging einen Schritt näher auf ihn zu und machte ihm Zeichen mit den Augen, daß Boris in Hörweite war.
»Nein, meine Frau mochte das ganz und gar nicht«, fuhr der Mann fort, ohne mich zu beachten. »Wenn es losging, hat sie immer den Kopf im Kissen vergraben. Einmal sogar in der Küche. Ich komme rein, und da steht sie und kocht mit einem Kissen um den Kopf. Das war wirklich nicht angenehm. Immer, wenn wir ihn gesehen haben, war er ja nüchtern, immer sehr korrekt. Er hat uns flüchtig gegrüßt und sich dann auf den Weg gemacht. Aber meine Frau war überzeugt, daß Alkohol dahintersteckte. Sie wissen schon...«
»Hören Sie«, zischelte ich wütend und lehnte mich über die Betonmauer, die uns trennte, »sehen Sie denn nicht, daß ich meinen Jungen bei mir habe? Sind das die Art Reden, die man vor ihm führen sollte?«
Der Mann schaute mit überraschtem Gesichtsausdruck zu Boris hinunter. Dann sagte er: »Aber so jung ist er doch nun auch wieder nicht, oder? Sie können ihn nicht vor allem abschirmen. Aber wenn Sie darüber nicht reden wollen, gut, reden wir eben über etwas anderes. Suchen Sie ruhig ein besseres Gesprächsthema, wenn Sie können. Ich wollte Ihnen ja nur erzählen, wie es gewesen ist. Aber wenn Sie darüber nicht reden wollen...«
»Nein, das will ich ganz gewiß nicht! Ich will ganz gewiß nichts darüber hören...«
»Tja, ist ja auch nicht so wichtig. Es ist nur so, daß ich ganz spontan eher seine und nicht ihre Partei ergriffen habe. Wenn er wirklich gewalttätig geworden wäre, tja, das wäre dann was anderes gewesen, aber dafür hat es nie irgendwelche Anzeichen gegeben. Also habe ich eher ihr die Schuld gegeben. Na schön, er ist viel weg gewesen, aber so, wie wir das verstanden haben, gehörte das zu seinem Beruf. Das war jedenfalls kein Grund, und das habe ich immer gesagt, kein Grund für sie, sich so zu benehmen...«
»Also, wollen Sie jetzt aufhören damit? Sie sind wohl nicht recht bei Trost? Der Junge! Der kann doch alles hören...«
»Na schön, dann hört er eben alles. Na und? Solche Sachen hören Kinder früher oder später doch. Ich wollte ja nur erklären, wieso ich eher für ihn Partei ergriffen habe, und deshalb ist meine Frau auch mit der Trinkerei gekommen. Das viele Weggehen sei eine Sache, hat meine Frau immer gesagt, aber das mit dem Trinken sei schon was anderes...«
»Also, wenn Sie so weitermachen, bin ich gezwungen, das Gespräch sofort zu beenden. Ich warne
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