Die Ungetroesteten
trotzigen Blick zu, als ich zu ihm hinüberging.
»Also Boris«, sagte ich sanft, »bist du sicher, daß du den Weg zu der alten Wohnung weißt?«
Er zuckte mit den Schultern und schaute weg. Dann sagte er müde: »Natürlich weiß ich das.«
»Aber wir scheinen nur einmal im Kreis herumgegangen zu sein.«
Wieder zuckte Boris mit den Schultern. Er hatte sich in die Betrachtung seines Schuhs vertieft, den er erst zur einen, dann zur anderen Seite drehte. Schließlich sagte er: »Die haben die Nummer Neun doch wohl sorgfältig verwahrt, oder?«
»Ich denke schon, Boris. Er lag doch in einer Schachtel, einer Schachtel, die ganz wichtig aussah. Die haben sie sicher gut weggelegt. Ganz oben auf ein Regal oder so.«
Einen Moment noch betrachtete Boris weiter seinen Schuh. Dann sagte er: »Wir sind vorbeigegangen. Wir sind schon zweimal vorbeigegangen.«
»Was? Willst du damit sagen, wir sind hier in diesem eisigen Wind ganz umsonst immer und immer wieder im Kreis herumgelaufen? Wieso hast du denn nichts gesagt, Boris? Ich verstehe dich wirklich nicht.«
Er schwieg und drehte seinen Fuß hin und her.
»Tja, und nun? Denkst du, wir sollten zurückgehen?« fragte ich. »Oder müssen wir noch einmal um den See herum?«
Boris seufzte und schien einen Moment lang tief in Gedanken versunken. Dann schaute er hoch und sagte: »Na gut. Es ist dahinten. Gleich dahinten.«
Wir gingen ein kurzes Stück auf dem Weg zurück. Bald blieb Boris vor einer der Treppen stehen und schaute zu der Wohnungstür hinauf. Dann drehte er der Tür fast sofort den Rücken zu und fing wieder an, seinen Schuh zu betrachten.
»Ach ja«, sagte ich und schaute prüfend zu der Tür. In Wirklichkeit erweckte die Tür – blau gestrichen und praktisch ohne etwas, das sie von den anderen Türen unterschieden hätte – keinerlei Erinnerungen in mir.
Boris schaute über die Schulter zu der Wohnung zurück, dann guckte er wieder weg und stocherte mit der Schuhspitze auf dem Boden herum. Einen Augenblick lang blieb ich am Fuß der Treppe stehen, ich war mir nicht ganz sicher, was ich als nächstes tun sollte. Schließlich sagte ich:
»Warum wartest du hier nicht einfach einen Moment, Boris? Ich gehe hoch und sehe nach, ob jemand zu Hause ist.«
Der Junge stieß weiter mit der Fußspitze in den Boden. Ich ging die Treppe hoch und klopfte an die Tür. Es regte sich nichts. Als ich ein zweites Mal geklopft hatte, ohne daß eine Reaktion gekommen wäre, preßte ich das Gesicht an die kleine Glasscheibe in der Tür. Das Glas war mit Eis überzogen, und ich konnte nichts sehen.
»Das Fenster!«, rief Boris hinter mir. »Guck doch durch das Fenster.«
Zu meiner Linken sah ich eine Art Balkon – kaum mehr als ein Sims, das an der Vorderfront des Gebäudes entlanglief, nicht einmal breit genug, um einen Stuhl dort aufzustellen. Ich faßte mit der Hand nach dem Eisengitter dieses Balkons, und indem ich mich über die Mauer bei der Treppe hochzog, konnte ich gerade eben durch das am nächsten gelegene Fenster spähen. Ich schaute in ein kombiniertes Wohn- und Eßzimmer mit einem Eßtisch vor einer Wand an dem einen Ende und mit reichlich aus der Mode gekommenen Möbeln.
»Siehst du sie?« rief Boris. »Siehst du die Schachtel?«
»Moment noch.«
Ich versuchte, mich noch weiter über die Mauer zu lehnen, wenn ich mir auch des gähnenden Abgrunds unter mir bewußt war.
»Siehst du sie?«
»Moment noch, Boris.«
Der Raum wurde mir inzwischen immer vertrauter. Die dreieckige Uhr an der Wand, das cremefarbene Schaumstoffsofa, der Hifi-Schrank mit den drei Ebenen; ich stellte fest, daß Gegenstand um Gegenstand, wenn mein Auge darauf fiel, einen eindringlichen Erinnerungsschub auslöste. Je tiefer ich jedoch in den Raum spähte, desto stärker wurde mein Eindruck, daß der ganze hintere Bereich, der sich L-förmig an das Wohnzimmer anschloß, vorher überhaupt nicht dagewesen war, daß man ihn erst vor kurzem hinzugefügt hatte. Doch während ich diesen Bereich immer intensiver musterte, schien mich gerade dieser hintere Bereich sehr an etwas zu erinnern, und nach einer Weile wurde mir klar, daß das daher rührte, daß dieser Bereich genauso aussah wie die Rückfront des Wohnzimmers in dem Haus in Manchester, in dem meine Eltern und ich einige Monate gelebt hatten. Das Gebäude, ein schmales Reihenhaus in der Stadt, war feucht und renovierungsbedürftig gewesen, doch wir hatten das hingenommen, da wir nur so lange bleiben wollten, bis die Anstellung meines
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