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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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an einer Tür erscheinen und sagen: »Wir sind wegen des Fahrrads für den Jungen gekommen«, und dann wurden wir zum Schuppen hinter dem Haus geführt, damit wir uns das Rad anschauen konnten. Die netteren Leute boten bei der Gelegenheit Tee an, was mein Vater jedesmal mit derselben scherzhaften Bemerkung ablehnte. Aber eine alte Frau – die in Wirklichkeit gar kein Fahrrad »für einen Jungen« verkaufen wollte, sondern nach dem Tod ihres Mannes dessen altes Rad – hatte darauf bestanden, daß wir zu ihr ins Haus kamen. »Das ist doch wirklich immer schön«, hatte sie zu uns gesagt, »Menschen wie Sie bei sich zu haben.« Als wir dann mit unseren Teetassen in ihrem sonnendurchfluteten Wohnzimmer gesessen hatten, bezeichnete sie uns noch einmal als »Menschen wie Sie«, und ganz plötzlich, während ich noch meinem Vater zuhörte, der über die Art Fahrrad sprach, das für einen Jungen meines Alters am besten geeignet wäre, dämmerte es mir, daß meine Eltern und ich für diese alte Frau das Ideal familiären Glücks verkörperten. Eine immense Anspannung folgte dieser Erkenntnis, eine Anspannung, die während der halben Stunde, die wir in dem Haus blieben, beständig wuchs. Natürlich befürchtete ich nicht etwa, meine Eltern könnten womöglich aus ihrer üblichen Rolle fallen – selbst eine ganz und gar bereinigte Variante eines ihrer Streitgespräche würden sie dort nicht beginnen, das war einfach undenkbar. Doch ich war fest davon überzeugt, daß jeden Moment ein kleines Anzeichen, vielleicht sogar ein Geruch, die alte Frau dazu bringen würde, die Ungeheuerlichkeit ihres Irrtums einzusehen, und voller Furcht wartete ich auf den Augenblick, in dem sie ganz plötzlich vor Schreck erstarren würde.
    Ich saß auf dem Rücksitz des alten Wagens und versuchte, mich daran zu erinnern, wie genau jener Nachmittag geendet hatte, doch ich stellte fest, daß meine Gedanken statt dessen zu einem ganz anderen Nachmittag abschweiften, einem Nachmittag, an dem es heftig geregnet hatte und ich zu dem Wagen hinausgegangen war, zu meiner Zuflucht auf diesem Rücksitz, während sich die Probleme im Haus weiter zuspitzten. An jenem Nachmittag lag ich quer über dem hinteren Sitz auf dem Rücken, den Kopf hatte ich ein Stück weit unter die Armlehne gezwängt. Von diesem Beobachtungsposten war der Regen, der die Scheiben herunterrann, das einzige, was ich durch die Fenster sehen konnte. In diesem Augenblick war es mein innigster Wunsch gewesen, hier Stunde um Stunde einfach nur ungestört liegen zu dürfen. Doch aus Erfahrung wußte ich, daß mein Vater irgendwann aus dem Haus treten, daß er am Wagen vorbei zur Einfahrt und dann hinaus auf die Straße gehen würde, und so hatte ich eine ganze Weile dort gelegen und durch den Regen intensiv auf das Klappern des Schlosses von der Hintertür gehorcht. Als das Geräusch endlich kam, war ich aufgesprungen und hatte angefangen zu spielen. Ich hatte ein erbittertes Ringen um eine fallen gelassene Pistole nachgeahmt, und zwar auf eine Weise, die deutlich machen sollte, daß ich zu beschäftigt war, um irgend etwas wahrzunehmen. Erst als ich auf dem feuchten Boden seine Schritte die Auffahrt hinuntergehen hörte, wagte ich, mein Spiel zu beenden. Dann kniete ich mich schnell auf den Sitz und lugte vorsichtig durch die Heckscheibe hinaus, gerade noch rechtzeitig, um die Gestalt meines Vaters im Regenmantel bei der Einfahrt stehenbleiben und sich leicht vorneigen zu sehen, während er seinen Regenschirm öffnete. Im nächsten Augenblick trat er entschlossen auf die Straße hinaus und entschwand meinem Blick.
    Ich mußte wohl eingedöst sein, denn ich wurde ruckartig wach und sah, daß ich in völliger Dunkelheit auf dem Rücksitz des kaputten Wagens saß. In leichter Panik stieß ich gegen die Tür -, die mir am nächsten war. Zuerst ließ sie sich nicht bewegen, dann gab sie bei jedem Stoß ein wenig nach, bis ich mich endlich hinauszwängen konnte.
    Ich klopfte mir die Kleider ab und schaute mich um. Das Haus war hell erleuchtet – ich sah funkelnde Kandelaber, eingerahmt von hohen Fenstern -, und neben unserem Wagen nestelte Sophie immer noch am Haar des Jungen herum. Ich stand außerhalb eines Lichtkegels, der von dem Haus herübergeworfen wurde, doch Sophie und Boris waren praktisch in Flutlicht getaucht. Während ich noch schaute, beugte sich Sophie zum Außenspiegel am Auto hinunter, um letzte Hand an ihr Make-up zu legen.
    Boris drehte sich zu mir um, als ich in das Licht

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