Die Ungetroesteten
Besonders ein Bild kam mir in den Sinn, nämlich Sophie in einem dunkelkarmesinroten Kleid, die verlegen mitten in einem Raum steht, um sie herum kleine Gruppen von Menschen, die miteinander lachen und sich unterhalten. Da dachte ich an die Demütigung, die sie hatte erdulden müssen, und schließlich berührte ich sie sacht am Arm. Zu meiner großen Erleichterung reagierte sie, indem sie mir den Kopf auf die Schulter legte.
»Du wirst schon sehen«, sagte sie beinahe im Flüsterton. »Ich werde es dir zeigen. Und Boris auch. Wer auch immer heute abend da sein wird, wir werden dir zeigen, wie gut wir sind.«
»Ja, ja. Das werdet ihr ganz bestimmt. Ihr werdet beide phantastisch sein.«
Einige Minuten später bemerkte ich dann, daß der rote Wagen den Blinker gesetzt hatte, um die Landstraße zu verlassen. Ich verkürzte den Abstand zwischen uns, und bald folgten wir unserem Lotsen zwischen Wiesen eine ruhige kleine Straße hinauf. Der Lärm der Landstraße blieb mehr und mehr zurück, je weiter wir hinauffuhren, und bald befanden wir uns auf unbefestigten Wegen, die für den Verkehr der heutigen Zeit kaum angemessen waren. Einmal schrammte eine dichte Hecke die eine ganze Seite unseres Wagens entlang, und kurz darauf rumpelten wir über einen schmuddeligen Hof voller kaputter landwirtschaftlicher Fahrzeuge. Dann gelangten wir auf einige bessere Straßen, die sich sanft durch die Felder schlängelten, und wir konnten wieder etwas schneller fahren. Schließlich hörte ich Sophie rufen: »Oh, da ist es ja!« und an einem Baum sah ich ein Schild aus Holz, das zur Galerie Karwinsky wies.
Ich fuhr langsamer, als wir uns der Einfahrt näherten. Zwei rostige Torpfosten standen noch, aber das Tor selbst war verschwunden. Während der rote Wagen weiter die Straße hinauffuhr und dann schließlich aus unserem Blickfeld geriet, lenkte ich das Auto zwischen den Pfosten hindurch auf ein weitläufiges überwuchertes Feld.
Es gab einen unbefestigten Pfad, der mitten durch das Feld führte, und eine ganze Weile fuhren wir langsam bergauf. Als wir oben auf dem Hügel ankamen, bot sich uns eine herrliche Aussicht. Das Feld fiel in ein seichtes Tal ab, an dessen tiefster Stelle sich ein eindrucksvolles Gebäude befand, das im Stil eines französischen Chateaus gebaut war. In dem Wäldchen dahinter ging die Sonne unter, und selbst aus dieser Entfernung sah ich, daß das Gebäude über einen gewissen morbiden Charme verfügte, was die Vorstellung des langsamen Verfalls einer in einer Traumwelt lebenden Gutsbesitzerfamilie heraufbeschwor.
Ich schaltete in einen niedrigeren Gang und lenkte den Wagen vorsichtig den Hügel hinunter. Im Rückspiegel sah ich, daß Boris, der jetzt hellwach war, nach links und rechts schaute, aber das Gras stand so hoch, daß aus den Seitenfenstern heraus nichts zu sehen war.
Als wir näher kamen, sah ich, daß ein großes Stück des Feldes neben dem Haus von geparkten Autos in Beschlag genommen war. Ich steuerte darauf zu, als wir unsere Fahrt den Hügel hinunter bewältigt hatten, und sah, daß dort insgesamt an die einhundert Fahrzeuge standen, von denen viele dem Anlaß entsprechend auf Hochglanz poliert waren. Ich fuhr auf der Suche nach einem geeigneten Parkplatz eine Weile herum und blieb unweit der zerbröckelnden Hofmauer stehen.
Ich stieg aus dem Wagen und streckte mich. Als ich zurückschaute, sah ich, daß auch Sophie und Boris ausgestiegen waren und daß Sophie an den Kleidern des Jungen herumnestelte.
»Und denk daran«, hörte ich sie zu ihm sagen. »Niemand in dem Raum ist wichtiger als du. Das mußt du dir einfach immer wieder sagen. Und außerdem bleiben wir ja nicht lange.«
Ich wollte gerade zum Gebäude gehen, als ich von etwas abgelenkt wurde, das ich aus den Augenwinkeln heraus erblickte. Ich drehte mich um und stellte fest, daß ganz in meiner Nähe jemand ein kaputtes Auto auf dem Gras abgestellt hatte. Die anderen Gäste hatten einen gewissen Abstand zu dem Auto eingehalten, als ob der Rost und der Verfall auf ihre Wagen überspringen könnten.
Ich ging ein paar Schritte auf das Autowrack zu. Es war tief in die Erde eingesunken und völlig von Gras umwuchert, ich hätte es vielleicht gar nicht bemerkt, hätte sich nicht der Sonnenuntergang auf der Haube gespiegelt. Es hatte keine Reifen, und die Tür auf der Fahrerseite war an den Scharnieren herausgerissen worden. Es war verschiedentlich gestrichen worden, und beim letzten Anstrich schien der Lackierer Gebäudefarbe benutzt
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