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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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wie Wachen an der Wand gegenüber den Fenstern standen und Tabletts mit Getränken und Canapés hielten. Gelegentlich rempelte mich jemand an und entschuldigte sich dann freundlich, oder ich wechselte ein Lächeln mit jemandem, der sich einen Weg in die entgegengesetzte Richtung bahnte, doch merkwürdigerweise schien mich tatsächlich niemand zu erkennen. Einmal mußte ich mich an drei Männern mittleren Alters vorbeizwängen, die voller Niedergeschlagenheit ihren Kopf über etwas schüttelten, und mir fiel auf, daß einer von ihnen eine Ausgabe der Abendzeitung unter dem Arm hielt. Ich sah mein windgepeitschtes Gesicht unter seinem Ellenbogen hervorlugen, und kurz überlegte ich, ob das Erscheinen der Fotos wohl mit der seltsamen Art in Zusammenhang stehen könnte, in der unsere Ankunft bisher ignoriert worden war. Aber inzwischen stand ich praktisch neben den Leuten, zu denen ich hatte vordringen wollen, und deshalb ging ich diesem Gedanken nicht weiter nach.
    Zwei in der Gruppe, die meine Ankunft bemerkt hatten, traten beiseite, als ob sie mich in ihrer Runde willkommen heißen wollten. Sie sprachen gerade, wie ich hören konnte, über die Kunstgegenstände um uns herum, und als ich in ihren Kreis trat, nickten sie alle über etwas, das einer von ihnen gerade gesagt hatte. Dann sagte eine der Frauen:
    »Ja, das ist so eindeutig, man könnte einen Strich durch den Raum ziehen, genau da hinter dem Van Thillo.« Sie deutete auf eine weiße Statuette auf einem Gestell ganz in unserer Nähe. »Der junge Oskar hat nie ein Auge für so etwas gehabt. Und gerechterweise muß man sagen, er hat das auch gewußt, aber er hatte dieses Pflichtgefühl, dieses Pflichtgefühl seiner Familie gegenüber.«
    »Entschuldigung, aber ich muß Andreas zustimmen«, sagte einer der Männer. »Oskar hat sich ein wenig übernommen. Er hätte mehr Aufgaben delegieren müssen. An Leute, die es besser gewußt hätten.«
    Dann fragte mich freundlich lächelnd einer der Männer: »Und wie denken Sie darüber? Über Oskars Beitrag zu dieser Sammlung?«
    Im ersten Moment war ich von dieser Frage etwas verblüfft, aber ich war nicht in der Stimmung, mich ablenken zu lassen.
    »Das ist ja alles gut und schön, daß Sie, meine Damen und Herren, hier stehen und sich über Oskars Unzulänglichkeit unterhalten«, fing ich an. »Aber weit wichtiger und relevanter...«
    »Das geht wohl ein wenig zu weit«, unterbrach eine Frau, »den jungen Oskar als unzulänglich zu bezeichnen. Sein Geschmack ist grundverschieden von dem seines Bruders, und ja, zugegeben, er hat diesen merkwürdigen Fehler gemacht, aber alles in allem finde ich, daß er dieser Sammlung eine willkommene neue Dimension hinzugefügt hat. Dadurch wird die Strenge aufgebrochen. Ohne das wäre die Sammlung, tja, sie wäre wie ein gutes Essen ohne Dessert. Diese Raupenvase dort drüben« – sie deutete über die Menge hinweg – »ist ja wirklich entzükkend.«
    »Das ist ja alles gut und schön«, fing ich erregt noch einmal an, doch bevor ich weitersprechen konnte, sagte ein Mann mit Bestimmtheit:
    »Die Raupenvase ist das einzige Stück, das einzige von seinen Neuerwerbungen, das hier einen Platz verdient. Sein Problem war, daß ihm der Sinn für die Sammlung als Einheit, für das Gleichgewicht des Ganzen fehlte.«
    Ich fühlte, daß ich mit meiner Geduld am Ende war.
    »Bitte«, rief ich, »hören Sie doch jetzt auf damit! Hören Sie doch für einen Augenblick auf mit diesem, diesem albernen Geschwätz! Hören Sie doch wenigstens für einen Augenblick damit auf und lassen Sie einmal jemand anderen zu Wort kommen, einen Außenstehenden, jemanden, der außerhalb dieser engen kleinen Welt steht, in der Sie so gern zu leben scheinen!«
    Ich schwieg und starrte sie an. Mein selbstbewußtes Vorgehen hatte sich ausgezahlt, denn sie alle – vier Männer und drei Frauen – sahen mich verblüfft an. Nun, da ich endlich ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, spürte ich, daß ich meinen Ärger wunderbar unter Kontrolle hatte, wie eine Waffe, die ich gezielt handhaben konnte. Ich senkte die Stimme – ich hatte etwas lauter gesprochen, als es meine Absicht gewesen war – und fuhr fort:
    »Ist es denn ein Wunder, ist es denn tatsächlich ein Wunder, daß Sie hier in dieser kleinen Stadt all diese Probleme haben, diese Krise, wie einige von Ihnen es zu nennen belieben? Daß so viele von Ihnen sich elend und enttäuscht fühlen? Empfindet es auch nur ein einziger, ein einziger Außenstehender als

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