Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
ich mich allmählich entschieden unbehaglich. Ich legte die Zeitung fort, ging weg von dem Tisch und beschloß, den Artikel bei späterer Gelegenheit eingehend zu studieren.
    »Höchste Zeit, daß wir hineingehen«, sagte ich zu Sophie und Boris, die zögernd mitten in dem riesigen Flur stehengeblieben waren. Ich hatte so laut gesprochen, daß die Bedienstete mich hören konnte, und erwartete selbstverständlich, daß sie uns zu dem Empfang geleiten würde. Doch sie rührte sich nicht, und nach einigen peinlichen Sekunden lächelte ich sie an und sagte: »Natürlich, ich weiß den Weg ja noch von gestern abend.« Damit ging ich voran in Richtung Saal.
    Es stellte sich heraus, daß das Gebäude keineswegs so war, wie ich es in Erinnerung hatte, und bald schon befanden wir uns in einem langen holzgetäfelten Korridor, der mir gänzlich fremd war. Doch das sollte sich als belanglos erweisen, denn sobald wir den Korridor ein wenig weiter entlanggegangen waren, hörten wir ein Stimmengewirr, und kurz darauf standen wir am Eingang eines schmalen Raumes, der vollgestopft war mit Leuten in Abendkleidung, die Cocktailgläser in der Hand hielten.
    Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, daß der Raum bedeutend kleiner war als der prächtige Ballsaal, in dem sich die Gäste am Abend zuvor versammelt hatten. Tatsächlich sah ich bei näherer Betrachtung, daß es sich eigentlich gar nicht um einen Raum, sondern um einen Korridor oder bestenfalls ein langes, gebogenes Vestibül handelte. Der Bogen war derart, daß man den Eindruck gewann, er würde schließlich einen Halbkreis beschreiben, obwohl man das vom Eingang aus unmöglich erkennen konnte. Am hinteren Ende sah ich die riesigen, jetzt zugezogenen Fenster, die um den ganzen Bogen liefen, während sich an der Wand gegenüber eine Tür an die andere zu reihen schien. Der Boden war aus Marmor, Kandelaber hingen von der Decke herab, und hier und da, im ganzen Raum verteilt, waren auf kleinen Sockeln oder in eleganten Glasvitrinen Kunstgegenstände ausgestellt.
    Wir blieben auf der Türschwelle stehen und betrachteten die Szenerie. Ich schaute mich um und wartete darauf, daß jemand kommen und uns hineinführen, ja vielleicht sogar unsere Ankunft ankündigen würde, doch obwohl wir eine ganze Weile dastanden und warteten, kam niemand zu uns. Zuweilen lief jemand in unsere Richtung, doch dann stellte es sich im letzten Moment heraus, daß er zu irgendeinem anderen Gast wollte.
    Ich sah Sophie an. Sie hatte einen Arm um Boris gelegt, und beide schauten ängstlich auf die Menge.
    »Na kommt, laßt uns hineingehen«, sagte ich lässig. Wir machten ein paar Schritte in den Raum hinein, blieben dann aber gleich wieder stehen.
    Ich sah mich nach Hoffman oder Miss Stratmann oder sonst jemand Bekanntem um, konnte aber niemanden entdecken. Während ich dann noch länger dastand und ein Gesicht nach dem anderen musterte, kam mir der Gedanke, daß etliche dieser Leute hier an jener Veranstaltung teilgenommen haben könnten, bei der man Sophie so verabscheuungswürdig behandelt hatte. Plötzlich erkannte ich um so deutlicher, was Sophie durchgemacht hatte, und spürte, daß eine gefährliche Wut in mir aufstieg. Tatsächlich entdeckte ich, während ich mich weiterhin im Raum umschaute, mindestens eine Gruppe von Gästen – sie standen ungefähr an der Stelle, an der der Raum durch den Bogen, den er beschrieb, für uns unsichtbar wurde -, die mit ziemlicher Gewißheit zu den Hauptschuldigen gehörten. Ich beobachtete sie durch die Menge hindurch: die Männer mit ihrem selbstgefälligen Lächeln, der arroganten Art, in der sie die Hände in die Hosentaschen steckten und wieder herausnahmen, um zu demonstrieren, wie wohl sie sich auf derartigen Versammlungen fühlten; und die Frauen in ihrer lächerlichen Kleidung und mit der Art, hilflos den Kopf zu schütteln, wenn sie lachten. Es war unglaublich – im höchsten Maße grotesk -, daß solche Leute sich anmaßten, überhaupt über jemanden zu lachen oder gar auf jemanden herabzusehen, erst recht auf jemanden wie Sophie. Tatsächlich sah ich keinen Grund, nicht sofort zu diesen Leuten hinzugehen und ihnen vor den Augen von ihresgleichen eine tüchtige Standpauke zu halten. Ich flüsterte Sophie schnell ein paar beruhigende Worte ins Ohr und machte mich auf den Weg durch den Raum.
    Während ich mir meinen Weg durch die Menge bahnte, sah ich, daß der Raum tatsächlich einen sanften Halbkreis beschrieb. Und jetzt sah ich auch die Kellner, die

Weitere Kostenlose Bücher