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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Zuweilen wurde diese Drohung zu einem Zeitpunkt geäußert, an dem die Tür tatsächlich weit offenstand, was mich in die verzwickte Lage brachte, sie am Ende meines Spiels entweder offenzulassen – obwohl sie dann möglicherweise die ganze Nacht offenstehen würde – oder aber das Risiko einzugehen, sie so leise wie möglich zu schließen. Dieses Dilemma quälte mich dann die ganze verbleibende Zeit meines Spiels, was mir den Spaß gründlich verdarb.
    »Was machst du denn da?« hörte ich Sophies Stimme hinter mir. »Wir sollten jetzt wohl hineingehen.«
    Mir wurde bewußt, daß sie mit mir sprach, doch meine Gedanken waren durch die Entdeckung unseres alten Wagens so abgelenkt worden, daß ich leise flüsternd irgend etwas zur Antwort gab, ohne überhaupt nachzudenken. Dann hörte ich sie sagen:
    »Was ist denn nur in dich gefahren? Du scheinst dich in das Ding ja richtiggehend verliebt zu haben.«
    Erst da wurde mir klar, daß ich den Wagen regelrecht umarmt hielt; ich hatte die Wange auf das Autodach gelegt, während meine Hände in sanften kreisenden Bewegungen über seine schäbige Oberfläche fuhren. Mit einem kurzen Auflachen richtete ich mich auf, drehte mich um und sah, daß Sophie und Boris mich anstarrten.
    »Verliebt in das Ding? Das soll doch wohl ein Witz sein.« Ich lachte noch einmal auf. »Es ist schändlich, wie die Leute solche Autowracks einfach in der Gegend herumstehen lassen.«
    Sie starrten mich immer noch an, also rief ich: »Was für ein widerlicher Dreckhaufen!« und gab dem Wagen einige tüchtige Tritte. Das schien sie zufriedenzustellen, und beide drehten sie sich weg. Dann sah ich, daß Sophie, obwohl sie mich eben noch so betont zur Eile gedrängt hatte, immer noch an der Kleidung von Boris herumnestelte und inzwischen wieder angefangen hatte, ihm das Haar zu kämmen.
    Ich wandte mich wieder dem Wagen zu, denn ich war voller Sorge, ich könnte ihm mit meinen Tritten irgendeinen Schaden zugefügt haben. Bei näherer Betrachtung konnte ich aber feststellen, daß sich nur einige rostige Stückchen der obersten dünnen Schicht gelöst hatten, aber dennoch war ich voller Gewissensbisse, weil ich mich so gefühllos gezeigt hatte. Ich ging durch das Gras auf die andere Seite des Wagens und schaute durch das Rückfenster ins Innere. Herumfliegende Teilchen waren gegen das Fenster geschlagen, aber die Scheibe war ganz geblieben, und ich schaute durch die Spinnennetzrisse auf den Rücksitz, auf dem ich einst so viele zufriedene Stunden verbracht hatte. Ein Großteil des Sitzes, das konnte ich nun sehen, war von Schimmelpilz überzogen. Regenwasser hatte sich in der Ecke, in der das Sitzkissen mit der Armlehne zusammentraf, zu einer Pfütze gesammelt. Als ich an der Tür zog, bot sie kaum Widerstand, ließ sich dann aber wegen des dichten Grases nur halb öffnen. Der Spalt war gerade groß genug, daß ich mich hineinzwängen konnte, und nach kurzem Kampf gelang es mir, auf den Sitz zu klettern.
    Als ich schließlich drinnen war, merkte ich, daß ein Ende des Sitzes durch den Wagenboden gefallen war, so daß ich unnatürlich tief zu sitzen kam. Durch das Fenster, das meinem Kopf am nächsten war, sah ich Grashalme und einen rosaroten Abendhimmel. Ich setzte mich zurecht und zerrte an der Tür, bis sie wieder fast ganz geschlossen war – da war etwas im Weg, so daß sie sich nicht vollständig schließen ließ -, und nach einer Weile hatte ich in eine recht bequeme Stellung gefunden.
    Bald darauf senkte sich eine tiefe Ruhe über mich, und ich ließ zu, daß sich meine Augen einen Moment lang schlossen. Währenddessen kam mir eine Erinnerung an einen der glücklicheren Familienausflüge zurück, die wir in dem Wagen unternommen hatten, wir waren damals auf der Suche nach einem gebrauchten Fahrrad für mich durch die ganze Gegend gefahren. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag gewesen, und wir waren von Dorf zu Dorf gefahren, hatten Fahrrad um Fahrrad begutachtet, und meine Eltern hatten sich vorne im Wagen ernsthaft beraten, während ich hinter ihnen auf genau diesem Sitz gesessen und die Worcestershire-Landschaft betrachtet hatte, die an uns vorüberzog. Es war die Zeit gewesen, als noch nicht jeder in England ein Telefon besaß, und meine Mutter hatte auf dem Schoß eine Ausgabe der Regionalzeitung, in der die Leute, die Gegenstände zum Verkauf anboten, noch ihre vollständigen Anschriften abdrucken ließen. Terminvereinbarungen waren nicht nötig gewesen; eine Familie wie wir konnte einfach

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