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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Brodsky?«
    »Herz? Mein Herz ist eigentlich ganz in Ordnung. Nein, nein, es hängt zusammen mit...« Plötzlich lachte er laut auf. »Ich verstehe, Mr. Ryder. Sie glauben, ich meine das poetisch. Nein, nein, ich wollte einfach sagen, daß ich eine Verwundung habe. Vor vielen Jahren wurde ich sehr schwer verwundet. In Rußland. Die Ärzte waren nicht besonders gut, sie haben schlechte Arbeit geleistet. Und die Schmerzen sind sehr schlimm. Es ist nie richtig verheilt. Ich habe das jetzt schon so lange, und immer noch tut es so weh.«
    »Tut mir leid, das zu hören. Das muß sehr lästig sein.«
    »Lästig?« Er dachte darüber nach und lachte dann wieder. »Das könnte man sagen, Mr. Ryder, mein lieber Freund. Lästig. Es ist höllisch lästig für mich.« Plötzlich schien er sich daran zu erinnern, daß er den Blumenstrauß in der Hand hielt. Er roch daran und atmete tief ein. »Aber wir wollen doch lieber von etwas anderem reden. Sie haben mich gefragt, wie es mir geht, und ich habe es Ihnen gesagt, aber ich wollte eigentlich nicht darüber reden. Ich versuche immer, tapfer zu sein, was diese Verwundung betrifft. Seit Jahren habe ich sie schon nicht mehr erwähnt, aber jetzt, da ich alt bin und nicht mehr trinke, sind die Schmerzen wirklich schlimm geworden. Die Wunde ist nie richtig verheilt.«
    »Aber dagegen können Sie doch sicher etwas tun. Haben Sie einen Arzt aufgesucht? Vielleicht einen Spezialisten der einen oder anderen Fachrichtung?«
    Brodsky schaute wieder auf seine Blumen hinunter und lächelte. »Ich will wieder mit ihr schlafen«, sagte er beinahe zu sich selbst. »Bevor diese Verwundung schlimmer wird. Ich will wieder mit ihr schlafen.«
    Es entstand ein verlegenes Schweigen. Dann sagte ich:
    »Wenn Ihre Verwundung schon so alt ist, Mr. Brodsky, ist es doch höchst verwunderlich, daß sie noch schlimmer werden kann.«
    »Diese alten Verwundungen.« Er zuckte mit den Schultern. »Jahrelang bleiben sie unverändert. Man denkt, man hat sie im Griff. Dann wird man alt, und sie rühren sich wieder. Aber im Moment ist es nicht so schlimm. Vielleicht kann ich ja doch mit ihr schlafen. Ich bin jetzt alt, aber manchmal...« Vertrauensvoll lehnte er sich vor. »Ich habe es versucht. Sie wissen schon, allein. Es funktioniert immer noch. Ich kann den Schmerz ignorieren. Als ich noch getrunken habe, da war mein Schwanz, Sie wissen schon, er war nichts, einfach nichts. Ich habe ihn nie zur Kenntnis genommen. Nur auf der Toilette. Das war alles. Aber jetzt funktioniert es, sogar mit den Schmerzen. Ich habe es versucht, vorgestern nacht. Ich kann nicht unbedingt bis zum Ende, Sie wissen schon, nicht alles. Mein Schwanz ist so alt, und all die Jahre war er eben nur, na ja, eben nur für die Toilette zu gebrauchen. Ach.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute voller Wehmut über meine Schulter hinweg in das Sonnenlicht. »Ich möchte so gerne wieder mit ihr schlafen. Aber wohnen bleiben würden wir hier nicht. Hier ganz bestimmt nicht. Ich habe diese Wohnung nie leiden können. Ich bin oft hier vorbeigekommen, ja, ich gebe es zu, ich bin oft spätabends hier vorbeigekommen, wenn mich keiner sehen konnte. Sie hat nie davon erfahren, aber ich bin oft vorbeigekommen und habe da draußen gestanden und auf das Haus geschaut. Ich habe diese Straße, diese Wohnung nie gemocht. Hier würden wir nicht wohnen bleiben. Wissen Sie, ich bin heute zum erstenmal, tatsächlich zum erstenmal in dieser schrecklichen Wohnung. Wieso hat sie sich nur so eine Wohnung ausgesucht? So etwas gefällt ihr doch eigentlich gar nicht. Wir werden außerhalb wohnen. Wenn sie nicht mit zurück in das Bauernhaus kommen will, dann ist das auch in Ordnung. Wir finden schon etwas anderes, vielleicht ein anderes kleines Haus. Vielleicht etwas inmitten von Gras und Bäumen, wo sich auch unser Haustier wohlfühlt. Unserem Haustier wird es hier nicht gefallen.« Prüfend schaute er sich Wände und Decke an und bemühte sich wohl einen Moment lang, die Vorzüge der Wohnung abzuschätzen. Dann sagte er abschließend: »Nein, wie könnte es unserem Haustier hier gefallen? Wir werden woanders wohnen, umgeben von Gras, Bäumen, Feldern. Wissen Sie, wenn in einem Jahr, in sechs Monaten, die Schmerzen zu schlimm werden, wenn mein Schwanz es nicht mehr tut, wenn wir nicht mehr miteinander schlafen können, das ist mir dann auch egal. Solange ich wenigstens noch einmal mit ihr schlafen kann. Nein, einmal wäre nicht genug, wissen Sie, es muß wieder so

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