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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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das ist dann auch egal. Vielleicht werden die Schmerzen für meinen alten Schwanz auch zu schlimm sein, wegen meiner Verwundung, wissen Sie, aber das macht nichts, sie wird sich daran erinnern, wie wir es getan haben. Nach all diesen Jahren, aber sie wird sich erinnern, an jedes Detail. Sie haben keine Verwundung, Mr. Ryder?«
    Plötzlich sah er mich an.
    »Eine Verwundung?«
    »Ich habe diese alte Verwundung. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß ich trinke. Sie verursacht mir solche Schmerzen.«
    »Wie bedauerlich.« Dann fügte ich nach einer kleinen Weile hinzu: »Ich habe mir tatsächlich einmal bei einem Fußballspiel einen Zeh verletzt. Da war ich neunzehn. Es war aber nicht allzu schlimm.«
    »Selbst in Polen, Mr. Ryder, als ich schon Dirigent war, habe ich zu keinem Zeitpunkt geglaubt, daß die Verwundung heilen würde. Wenn ich mein Orchester dirigierte, habe ich immer die Wunde berührt, sie gestreichelt. An manchen Tagen habe ich an ihren Rändern gezupft, sie sogar heftig mit den Fingern gekniffen. Man merkt schon recht früh, wenn eine Wunde nicht heilen will. Selbst als ich schon Dirigent war, wußte ich genau, daß das alles war, was die Musik vermochte: zu trösten. Es half eine Weile. Ich mochte das Gefühl, in die Wunde zu kneifen, das hat mich fasziniert. Eine gute Wunde ist dazu in der Lage, sie kann einen faszinieren. Jeden Tag sieht sie ein bißchen anders aus. Hat sie sich verändert? fragt man sich. Vielleicht heilt sie jetzt endlich. Du siehst sie dir im Spiegel an, sie sieht anders aus. Aber dann berührst du sie, und du weißt, es ist noch dieselbe, dein alter Freund. Das machst du Jahr um Jahr, und dann weißt du, sie wird nicht mehr heilen, und schließlich wird man es leid, und man wird müde. Man wird so müde.« Er schwieg und schaute wieder auf seinen Blumenstrauß hinunter. Dann sagte er wieder: »Man wird so müde. Sind Sie noch nicht müde, Mr. Ryder? Man wird so müde.«
    »Vielleicht steht es ja in der Macht von Miss Collins, Ihre Wunde zu heilen«, sagte ich vorsichtig.
    »Miss Collins?« Er lachte plötzlich auf und schwieg dann wieder. Nach einer Weile sagte er leise: »Sie wird wie die Musik sein. Ein Trost. Ein wundervoller Trost. Mehr verlange ich jetzt ja gar nicht. Ein Trost. Aber die Wunde heilen?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich sie Ihnen jetzt zeigen würde, mein Freund, würden Sie sehen, daß das absolut unmöglich ist. Medizinisch unmöglich. Alles, was ich will, alles, was ich jetzt noch verlange, ist ein Trost. Selbst wenn es so kommt, wie ich sage, und er wird nur halbsteif, und es wird nicht mehr als ein kleines Tänzchen – sechsmal ist dann wirklich genug. Danach kann die Verwundung dann tun und lassen, was sie will. Dann werden wir ja auch schon unser Haustier haben, das Gras, die Felder. Wieso hat sie sich nur so eine Wohnung ausgesucht?«
    Wieder schaute er sich um und schüttelte den Kopf. Diesmal schwieg er eine lange Zeit, vielleicht an die zwei oder drei Minuten. Ich wollte schon etwas sagen, als er sich plötzlich in seinem Stuhl vorbeugte.
    »Ich hatte einen Hund, Mr. Ryder, Bruno, er ist gestorben. Ich habe... ich habe ihn noch nicht beerdigt. Er liegt in einem Karton, einer Art Sarg. Er war ein guter Freund. Bloß ein Hund, aber ein guter Freund. Ich habe eine kleine Zeremonie im Sinn gehabt, bloß um Abschied zu nehmen. Nichts Besonderes. Bruno ist jetzt Vergangenheit, aber eine kleine Zeremonie, bloß um Abschied zu nehmen, was ist denn schon dabei? Ich wollte Sie um etwas bitten, Mr. Ryder. Einen kleinen Gefallen, für mich und für Bruno.«
    Plötzlich ging die Tür auf, und Miss Collins trat ins Zimmer. Als Brodsky und ich aufstanden, kam Parkhurst hinter ihr herein und schloß die Tür.
    »Es tut mir sehr leid, Miss Collins«, sagte er und warf Brodsky einen ärgerlichen Blick zu. »Er wollte sich einfach nicht sagen lassen, daß Sie nicht gestört werden dürfen.«
    Brodsky stand verlegen mitten im Zimmer. Als Miss Collins näher kam, verbeugte er sich, und ich bekam eine Ahnung davon, wie galant er einst gewesen sein mußte. Er hielt ihr den Blumenstrauß hin und sagte: »Nur ein kleines Präsent. Ich habe sie selbst gepflückt.«
    Miss Collins nahm mechanisch die Blumen entgegen. »Ich hätte mir ja denken können, daß Sie so hierherkommen würden, Mr. Brodsky«, sagte sie. »Ich bin gestern in den Zoo gekommen, und jetzt glauben Sie, daß Sie sich alle nur möglichen Freiheiten herausnehmen dürfen.«
    Brodsky senkte den Blick.

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