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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Spur von Ungeduld in der Geste. Ich dankte ihm und stieg aus dem Auto.

FÜNFUNDZWANZIG
    Ich zog das Gittertor auf und folgte dem Fußweg, der zu der kleinen Blockhütte hinaufführte. Die Wiese war zunächst beunruhigend morastig, doch weiter oben trat ich bald auf festeren Boden. Auf halber Höhe schaute ich über die Schulter zurück und konnte die lange Straße sich durch die Äcker winden und das Dach eines Autos, das durchaus Hoffmans Wagen sein konnte, in der Ferne verschwinden sehen.
    Ich war ein wenig außer Atem, als ich die Hütte erreichte und das verrostete Vorhängeschloß an der Tür öffnete. Von außen sah die Hütte kaum anders aus als ein gewöhnlicher Geräteschuppen, dennoch war ich einigermaßen bestürzt, als ich feststellen mußte, daß sie überhaupt nicht eingerichtet war. Wände und Boden bestanden lediglich aus rauhen Brettern, von denen sich einige verzogen hatten. In den Rissen zwischen den Brettern bewegten sich Insekten, und über mir an den Deckenbalken wogten die Reste von Spinnweben hin und her. Ein leicht ramponierter Flügel nahm fast den ganzen Raum der Hütte ein, und als ich den Klavierstuhl hervorzog und mich setzte, berührte ich mit dem Rücken praktisch die Wand hinter mir.
    In diese selbe Wand war das einzige Fenster der Hütte eingelassen, und wenn ich mich auf meinem Stuhl herumschwang und den Hals etwas reckte, konnte ich die Wiese sehen, die sich steil zur Straße hinabsenkte. Der Boden der Hütte schien nicht ganz eben zu sein, und als ich mich wieder zum Flügel umdrehte, hatte ich das unangenehme Gefühl, als würde ich rückwärts den Hügel hinuntergleiten. Doch als ich den Klavierdeckel öffnete und die ersten Töne anschlug, konnte ich mich davon überzeugen, daß das Instrument einen vorzüglichen Klang hatte, besonders die tiefen Töne zeichneten sich durch eine erfreuliche Fülle aus. Der Anschlag war glücklicherweise nicht zu leicht, und das Instrument war ausgezeichnet gestimmt. Ich hatte den Eindruck, als sei das rauhe Holz um mich herum möglicherweise sorgfältig ausgewählt worden, um den Klang auf optimale Weise aufzunehmen und zurückzuwerfen. Abgesehen von einem leichten Knacken, das zu hören war, wenn ich das rechte Pedal betätigte, gab es kaum etwas, worüber ich mich beklagen konnte.
    Nach einer kurzen Zeit, in der ich meine Gedanken sammelte, begann ich mit der wirbelnden Eröffnung von Asbestos and Fibre. Als dann der erste Satz seine nachdenklichere Phase erreichte, entspannte ich mich mehr und mehr, und zwar so sehr, daß ich fast den ganzen ersten Satz mit geschlossenen Augen spielte.
    Als ich mit dem zweiten Satz begann, öffnete ich die Augen wieder und sah, daß die Nachmittagssonne durch das Fenster hinter mir hereinströmte und meinen Schatten klar umrissen auf die Tastatur warf. Doch selbst die Anforderungen des zweiten Satzes änderten nichts an meiner Ruhe. Tatsächlich merkte ich, daß ich jede Nuance der Komposition absolut unter Kontrolle hatte. Mir fiel wieder ein, wieviel Sorgen ich mir den ganzen Tag über gemacht hatte, doch jetzt kam ich mir deswegen recht dumm vor. Außerdem schien es mir nun, da ich etwa in der Mitte des Stückes war, unvorstellbar zu sein, daß meine Mutter davon nicht gerührt sein würde. Es war ganz einfach so, daß ich keinerlei Anlaß hatte, etwas anderes als äußerste Zuversicht beim Gedanken an das Konzert zu empfinden.
    Und da, als ich mich der erhabenen Melancholie des dritten Satzes näherte, nahm ich ein Geräusch im Hintergrund wahr. Zuerst dachte ich, es käme von dem linken Pedal oder aus dem Fußboden. Es war ein schwaches, rhythmisches Geräusch, das immer wieder aufhörte und dann von neuem einsetzte, und eine Zeitlang versuchte ich, es nicht zu beachten. Aber es kehrte immer wieder, und während der Pianissimo-Passagen mitten im Satz merkte ich dann, daß draußen, nicht weit weg von mir, jemand dabei war zu graben.
    Da das Geräusch nichts mit mir zu tun hatte, konnte ich es nun leicht ignorieren. Ich fuhr mit dem dritten Satz fort und genoß die Mühelosigkeit, mit der die verworrenen Gefühlsknäuel träge an die Oberfläche stiegen und sich lösten. Ich schloß wieder die Augen, und bald schon stellte ich mir die Gesichter meiner Eltern vor, sie saßen nebeneinander und lauschten mit dem Ausdruck feierlicher Konzentration. Merkwürdigerweise sah ich sie nicht in einem Konzertsaal – wo sie ja später am Abend, so wußte ich, sitzen würden -, sondern in dem Wohnzimmer einer

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