Die Ungetroesteten
Baudelaire erzählt. Ich mußte ihr gestehen, daß ich Baudelaires Werk nicht besonders gut kenne. Sehr zu Recht hat sie mich wegen dieser beklagenswerten Lücke gescholten. Oh, sie hat es erreicht, daß ich mich zutiefst schämte. Ich habe vor, den Mißstand unverzüglich zu beheben. Die Liebe Ihrer Frau zu diesem Dichter ist außerordentlich ansteckend.‹ Woraufhin ich nickte und sagte: ›Ja, natürlich. Sie hat Baudelaire immer schon geliebt.‹ – ›Und das mit einer derartigen Leidenschaft‹, sagte Piotrowski. ›Sie hat es erreicht, daß ich mich zutiefst schämte.‹ Und mehr war da nicht, das war alles, was zwischen uns gesprochen wurde. Aber sehen Sie, Mr. Ryder, der springende Punkt war der. Von ihrer Liebe zu Baudelaire hatte ich überhaupt nichts gewußt! Ich hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt! Sie verstehen doch, was das bedeutet. Diese leidenschaftliche Liebe hat sie vor mir immer geheimgehalten! Und als Piotrowski mir das erzählte, ergab plötzlich alles einen Sinn. Auf einmal erkannte ich ganz deutlich etwas, das ich in all den Jahren nicht einmal versucht hatte zu verstehen. Ich meine die Tatsache, daß sie gewisse Aspekte ihres Lebens immer vor mir verborgen hatte, als könnten sie bei der Berührung mit meiner Grobheit Schaden nehmen. Wie gesagt, Mr. Ryder, ich hatte das vielleicht immer schon vermutet. Daß es da eine ganze Seite ihres Lebens gab, an der sie mich nicht teilhaben ließ. Und wer wollte ihr das schon zum Vorwurf machen? Eine Frau von so großer Empfindsamkeit, aufgewachsen in solch einer Familie. Sie hatte nicht gezögert, mit Piotrowski darüber zu reden, aber zu keinem Zeitpunkt in unseren gemeinsamen Jahren hat sie diese Liebe zu Baudelaire auch nur einmal angedeutet. Während der nächsten Minuten ging ich zwischen den Leuten auf dem Empfang umher und wußte kaum, was ich mit den anderen Gästen reden sollte, ich plauderte höflich, und innerlich war alles in Aufruhr. Dann schaute ich quer durch den Raum, es muß etwa eine halbe Stunde nach dem Gespräch mit Piotrowski gewesen sein, ich schaute quer durch den Raum und sah sie, meine Frau, neben Piotrowski auf dem Sofa sitzen und glücklich lachen. Die Situation hatte nichts von einem Flirt. O nein, meine Frau hat immer peinlich genau auf Schicklichkeit geachtet. Aber sie lachte mit einer Ungezwungenheit, wie ich sie, so erkannte ich, seit unseren Spaziergängen am Kanal während der Tage vor unserer Hochzeit nicht erlebt hatte. Das heißt, bevor sie dahintergekommen war. Es war ein sehr großes Sofa, und es saßen noch zwei andere Leute da, und dann saßen noch einige Gäste auf dem Fußboden, nur um in Piotrowskis Nähe zu sein. Doch Piotrowski hatte sich gerade mit meiner Frau unterhalten, und sie lachte glücklich. Aber, Mr. Ryder, nicht nur dieses Lachen sprach Bände. Während ich sie beobachtete, ich stand am anderen Ende des Raumes, während ich sie beobachtete, geschah dann folgendes. Bis zu diesem Augenblick hatte Piotrowski ganz vorn am Rand des Sofas gesessen und hatte mit den Händen die Knie umfaßt, genau so! Als er lachte und irgendeine Bemerkung meiner Frau gegenüber machte, sank er allmählich etwas weiter nach hinten, ja, so als wolle er sich in dem Sofa zurücklehnen. Und als er immer weiter nach hinten sank, nahm meine Frau, ganz schnell, ganz geschickt, ein Kissen hinter ihrem Rücken hervor und rückte es für Piotrowski zurecht, so daß es bereit lag, als sein Kopf die Sofalehne erreicht hatte. Es ging ganz schnell, beinahe ohne Überlegung, eine sehr anmutige Geste, Mr. Ryder. Und als ich das sah, da brach mir das Herz. Es war eine Geste solch selbstverständlichen Respekts, der Wunsch, auch in einer solchen Kleinigkeit gefällig zu sein, sich um jemanden zu bemühen. Diese kleine Bewegung enthüllte einen ganzen Bereich ihres Herzens, den sie vor mir fest verschlossen gehalten hatte. Und in dem Augenblick begriff ich, welch Illusionen ich mich hingegeben hatte. Da begriff ich, was ich seither mit Sicherheit weiß und nicht ein einziges Mal in all der Zeit angezweifelt habe. Ich meine, Mr. Ryder, ich begriff, daß sie mich verlassen würde. Früher oder später. Es war nur eine Frage der Zeit. Seit jenem Abend habe ich das gewußt.«
Er schwieg und schien wieder ganz in Gedanken versunken. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich jetzt Ackerland, und ich sah Traktoren, die sich in der Ferne langsam über die Felder bewegten.
»Entschuldigung, aber dieser eine Abend, von dem Sie da
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