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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Nachbarin in Worcestershire, einer gewissen Mrs. Clarkson, einer Witwe, mit der meine Mutter eine Zeitlang freundschaftlich verkehrt hatte. Vielleicht war es das hohe Gras draußen vor der Hütte, das mich an Mrs. Clarkson erinnert hatte. Ihr Häuschen hatte, genau wie unseres, mitten auf einer Wiese gestanden, und natürlich war sie, da sie ja allein lebte, nicht in der Lage gewesen, das Gras auch nur annähernd zu bändigen. Das Innere ihres Häuschens war hingegen makellos sauber gewesen. In der einen Ecke ihres Wohnzimmers hatte es ein Klavier gegeben, das ich, soweit ich zurückdenken kann, nie aufgeklappt gesehen habe. Vielleicht war es verstimmt oder kaputt gewesen. Aber da kam mir eine ganz spezifische Erinnerung. Ich saß still in diesem Zimmer, mit meiner Tasse Tee auf dem Knie, und hörte zu, wie sich meine Eltern mit Mrs. Clarkson über Musik unterhielten. Vielleicht hatte mein Vater gerade gefragt, ob sie überhaupt je auf dem Klavier spiele, denn ganz gewiß war Musik für Mrs. Clarkson kein häufiges Gesprächsthema gewesen. Während ich jedenfalls in der Blockhütte mit dem dritten Satz aus Asbestos and Fibre weitermachte, gestattete ich mir ohne jeden nachvollziehbaren Grund die Genugtuung, mir vorzustellen, ich befände mich wieder in diesem Raum in Mrs. Clarksons Häuschen, und mein Vater, meine Mutter und Mrs. Clarkson würden mit ernstem Gesichtsausdruck zuhören, während ich auf dem Klavier in der Ecke spielte und die Spitzengardine mir in der sommerlichen Brise ständig ins Gesicht zu wehen drohte.
    Als ich mich den Schlußtakten des dritten Satzes näherte, drang mir das Geräusch von draußen erneut ins Bewußtsein. Ich war nicht sicher, ob es für eine Weile aufgehört und dann wieder angefangen hatte oder ob es die ganze Zeit angedauert hatte, aber jedenfalls schien es jetzt weit auffälliger zu sein als zuvor. Da kam mir plötzlich der Gedanke, daß das Geräusch von niemand anderem als Brodsky verursacht wurde, der dabei war, seinen Hund zu begraben. Tatsächlich erinnerte ich mich jetzt daran, daß er mehr als einmal im Lauf des Vormittags seine Absicht kundgetan hatte, den Hund später am selben Tag zu begraben, und ich erinnerte mich sogar dunkel, daß ich einer Art Arrangement zugestimmt hatte, demzufolge ich während der Begräbniszeremonie Klavier spielen sollte.
    Nun begann ich, mir einiges von dem vorzustellen, was sich vor meiner Ankunft bei der Hütte ereignet haben mußte. Brodsky war höchstwahrscheinlich zu einem früheren Zeitpunkt eingetroffen und hatte an einer Stelle genau bei der Hügelspitze gewartet, nur einen Steinwurf von der Blockhütte entfernt, an einem Hang mit einer Baumgruppe. Er hatte ganz ruhig an dieser Stelle gestanden, den Spaten gegen einen Baumstamm gelehnt, und ganz in der Nähe, vom Gras fast vollständig verborgen, hatte der in ein Laken gewickelte Kadaver seines Hundes gelegen. Brodsky hatte, wie er mir heute vormittag erzählt hatte, eine schlichte Zeremonie im Sinn gehabt, deren einzige Verschönerung meine Klavierbegleitung sein sollte, und verständlicherweise hatte er mit dem ganzen Ritual nicht vor meiner Ankunft beginnen wollen. So hatte er also gewartet, vielleicht sogar eine volle Stunde lang, er hatte in den Himmel und vom Hügel aus in die Landschaft geblickt.
    Zunächst hätte sich Brodsky ganz selbstverständlich alle Erinnerungen an seinen verstorbenen Gefährten wieder ins Gedächtnis gerufen. Doch während die Minuten vergingen und von mir weit und breit noch nichts zu sehen war, würden sich seine Gedanken wohl Miss Collins und dem Rendezvous auf dem Friedhof zugewandt haben. Bald darauf würde Brodsky festgestellt haben, daß er sich an einen bestimmten Frühlingsmorgen vor vielen Jahren erinnerte, als er zwei Korbstühle auf die Wiese hinter ihrem Häuschen hinausgetragen hatte. Das war nur vierzehn Tage nach ihrer Ankunft in der Stadt gewesen, und trotz ihrer knappen Geldmittel hatte sich Miss Collins mit beträchtlicher Energie darangemacht, ihr neues Heim wohnlich herzurichten. An jenem Frühlingsmorgen war sie zum Frühstück heruntergekommen und hatte den Wunsch geäußert, ein wenig an der frischen Luft und in der Sonne zu ruhen.
    Bei dem Gedanken an jenen Morgen würde er festgestellt haben, daß er sich lebhaft an das feuchte Gras und die Morgensonne über ihnen erinnerte, als er die Stühle Seite an Seite aufgestellt hatte. Sie war ein wenig später herausgekommen, und sie hatten eine Weile zusammen dagesessen und

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