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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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das Vorgefallene bedauere, doch sie hatte ihn mit den Worten unterbrochen, sie hätten sich doch beide erstaunlich kindisch verhalten. Dann hatten sie weitergegessen, beide sichtlich erleichtert, daß der Streit nun hinter ihnen lag. Und doch war noch den ganzen Tag, ja auch noch an den darauffolgenden Tagen etwas Kaltes in ihrem Leben geblieben. Und wenn er in den kommenden Monaten, nachdem die Phasen des Schweigens zwischen ihnen sowohl an Länge als auch an Häufigkeit zugenommen hatten, über die Ursprünge dieser Verhaltensweise nachgrübelte, hatte er feststellen müssen, daß er in Gedanken immer wieder zu jenem Frühlingstag zurückgekehrt war, zu jenem Morgen, der für sie beide so vielversprechend begonnen hatte, während sie Seite an Seite im feuchten Gras gesessen hatten.
    Während dieser Erinnerungen war ich schließlich bei der Hütte angekommen und hatte zu spielen begonnen. Bei den ersten paar Takten hatte Brodsky noch mit leerem Blick in die Ferne gestarrt. Dann hatte er mit einem Seufzer seine Gedanken wieder auf die vor ihm liegende Aufgabe gerichtet und hatte seinen Spaten zur Hand genommen. Mit der Spatenspitze hatte er die Beschaffenheit des Bodens geprüft, doch dann hatte er innegehalten, weil er möglicherweise zu dem Schluß gekommen war, die Stimmung der Musik entspreche noch nicht seinen Vorstellungen. Erst während der melancholischen Langsamkeit des dritten Satzes hatte Brodsky angefangen zu graben. Der Boden war weich, und es ging mühelos. Dann hatte er den Hundekadaver durch das hohe Gras gezogen und ohne große Umstände in das Grab fallen lassen, und dabei war er nicht einmal in Versuchung gewesen, das Laken zurückzuschlagen und einen letzten Blick auf das Tier zu werfen. Er hatte gerade wieder angefangen, etwas Erde in das Grab zu schaufeln, als etwas, vielleicht die Traurigkeit der Musik, ihn schließlich hatte innehalten lassen. Dann hatte er sich aufgerichtet und sich einige Momente gestattet, in denen er still auf das halb zugeschaufelte Grab schaute. Erst als ich mich dem Ende des dritten Satzes näherte, hatte Brodsky seinen Spaten wieder zur Hand genommen und weitergeschaufelt.
    Als ich den dritten Satz beendet hatte, hörte ich, daß Brodsky immer noch angestrengt arbeitete, und ich beschloß, den letzten Satz nicht zu spielen – er eignete sich kaum für eine derartige Zeremonie – und einfach noch einmal mit dem dritten zu beginnen. Das, so meinte ich, sei das mindeste, was ich für Brodsky tun konnte, nachdem ich ihn so lange hatte warten lassen. Das Schaufeln ging noch eine Weile weiter und hörte dann auf, als noch ungefähr die Hälfte des Satzes zu spielen war, aber ich gab ihm noch ein wenig mehr Zeit, um am Grab seinen Gedanken nachzuhängen. Ich erkannte, daß ich den elegischen Nuancen größeren Nachdruck verlieh als beim ersten Durchspielen des Satzes.
    Als ich das Ende des Satzes zum zweitenmal erreicht hatte, blieb ich einige Minuten lang still am Klavier sitzen, bevor ich aufstand und in der Enge die Glieder streckte. Die Nachmittagssonne erfüllte jetzt die Hütte, und im Gras ganz in der Nähe hörte ich die Grillen. Nach einer Weile überlegte ich mir, daß ich nach draußen gehen und ein paar Worte mit Brodsky reden sollte.
    Als ich die Tür aufstieß und hinaussah, war ich überrascht, wie tief die Sonne schon über der Straße am Fuß des Hügels stand. Ein paar Schritte durch das Gras brachten mich wieder zu dem Fußweg, und ich stieg das letzte Stückchen zur Hügelspitze hinauf. Von dort fiel der Boden sanft in ein liebliches Tal hinab. Unter einer Gruppe schlanker Bäume in meiner unmittelbaren Nähe stand Brodsky bei dem Grab.
    Er drehte sich nicht um, als ich zu ihm trat, aber er sagte leise, ohne den Blick von dem Grab abzuwenden: »Mr. Ryder, ich danke Ihnen. Das war wunderschön. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar.«
    Ich brummelte etwas und blieb in respektvoller Entfernung zu dem Grab stehen. Brodsky schaute noch eine Weile zu Boden und sagte dann:
    »Nur ein altes Tier. Aber ich wollte die beste Musik. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
    »Nichts zu danken, Mr. Brodsky. Es war mir eine Ehre.«
    Er seufzte und sah mich jetzt zum erstenmal an. »Wissen Sie, ich kann um Bruno einfach nicht weinen. Ich habe es versucht, aber ich kann einfach nicht weinen. Meine Gedanken gelten ganz der Zukunft. Und manchmal auch ganz der Vergangenheit. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine, ich bin dann ganz bei unserem früheren Leben. Wir wollen jetzt gehen,

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