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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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ziemlich merkwürdig schmecken würde.
    »Und was die Stadt selbst angeht«, sagte der weißhaarige Herr. »Wenn Sie sich für mittelalterliche Architektur interessieren, da gibt es eine Reihe von Häusern, die außerordentlich reizvoll sind. Besonders in der Altstadt. Ich würde Sie sehr gern einmal herumführen.«
    »Tja«, entgegnete ich, »das ist sehr freundlich von Ihnen.«
    Ich aß weiter, ich wollte jetzt so schnell wie möglich mit dem Kuchen fertig werden. Wieder trat Schweigen ein, und dann seufzte die Witwe und sagte:
    »Es ist ja noch sehr schön geworden.«
    »Ja«, erwiderte ich, »das Wetter ist schon seit meiner Ankunft wirklich prächtig.«
    Diese Bemerkung löste allgemein zustimmendes Gemurmel aus, manche lachten sogar höflich, als hätte ich einen Witz gemacht. Ich stopfte mir den Rest des Kuchens in den Mund und wischte mir die Krümel von den Händen.
    »Hören Sie«, sagte ich, »Sie sind wirklich alle sehr freundlich gewesen. Aber fahren Sie jetzt doch bitte mit der Zeremonie fort.«
    »Noch ein Pfefferminz, Mr. Ryder? Mehr haben wir Ihnen nicht anzubieten.« Wieder hielt mir die Witwe die Pfefferminzrolle vor die Nase.
    Da dämmerte mir plötzlich, daß die Witwe mich in diesem Augenblick zutiefst hassen mußte. Ja, tatsächlich wurde mir klar, daß praktisch alle Anwesenden, so höflich sie auch waren – der untersetzte Mann eingeschlossen -, wegen meiner Anwesenheit Groll empfanden. Merkwürdigerweise sagte genau in dem Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, hinter mir eine nicht unbedingt laute, aber deutlich vernehmbare Stimme:
    »Was ist denn überhaupt so Besonderes an ihm? Das ist Hermanns Tag.«
    Es war ein unruhiges Stimmengewirr zu hören und mindestens zwei geflüsterte Bemerkungen: »Wer hat das gesagt?« Der weißhaarige Herr räusperte sich und sagte dann:
    »Auch entlang der Kanäle kann man sehr schön spazierengehen.«
    »Was ist denn überhaupt so Besonderes an ihm? Kommt hierher und mischt sich in alles ein.«
    »Halt doch den Mund, du Idiot!« antwortete jemand. »Wir werden uns alle blamieren.«
    Eine Reihe von Stimmen unterstützte grummelnd diese letzte Bemerkung, doch inzwischen hatte eine zweite Stimme angefangen, voller Aggressivität etwas zu schreien.
    »Bitte, Mr. Ryder.« Wieder stieß mir die Witwe die Pfefferminzrolle hin.
    »Nein, wirklich nicht...«
    »Bitte. Nehmen Sie doch noch eines.«
    Ein wütender Wortwechsel zwischen vier oder fünf Beteiligten brach im hinteren Teil der Gruppe aus. »Das geht nun wirklich zu weit. Das Sattler-Haus, das geht einfach zu weit«, stieß jemand hervor.
    Dann begannen mehr und mehr Leute, einander anzuschreien, und ich spürte, daß bald ein handfester Streit ausbrechen würde.
    »Mr. Ryder« – der untersetzte Mann beugte sich zu mir herunter -, »bitte, hören Sie nicht auf sie. Die waren schon immer eine Schande für unsere Familie. Immer schon. Wir schämen uns für sie. O ja, wir schämen uns. Bitte machen Sie es uns nicht noch schwerer, indem Sie ihnen zuhören.«
    »Aber bestimmt...« Ich wollte aufstehen, doch ich fühlte, wie mich etwas wieder hinunterdrückte. Dann sah ich, daß die Witwe mit der einen Hand meine Schulter umklammerte.
    »Bitte, entspannen Sie sich, Mr. Ryder«, sagte sie hart. »Bitte, essen Sie jetzt auf.«
    Inzwischen war überall heftiger Streit ausgebrochen, und irgendwo hinten schienen sich ein paar Leute gegenseitig anzurempeln. Die Witwe drückte mich immer noch an der Schulter herunter und sah mit einem Ausdruck trotzigen Stolzes auf die Versammlung.
    »Das ist mir egal, das ist mir egal!« rief eine Stimme. »So wie jetzt sind wir einfach besser dran!«
    Es kam zu weiteren Rempeleien, und dann drängte sich ein dicker, mondgesichtiger junger Mann ganz nach vorne durch. Sichtlich aufgebracht, starrte er mich an und rief:
    »Das ist ja alles gut und schön, daß Sie hierhergekommen sind. Stellen sich einfach vor das Sattler-Haus! Und lächeln noch so! Und hinterher gehen Sie dann wieder weg. Aber für uns, die wir hier leben müssen, ist das nicht ganz so leicht. Das Sattler-Haus!«
    Der junge Mann mit dem Mondgesicht sah nicht aus wie jemand, für den derartige Unverschämtheiten etwas Alltägliches waren, und es schien keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu geben. Ich war einigermaßen bestürzt, und eine ganze Weile sah ich mich außerstande zu antworten. Als der junge Mann mit dem Mondgesicht eine weitere Salve von Anschuldigungen losließ, spürte ich,

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