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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Geräusch verzweifelter Schluchzer herbei.
    »Hier entlang bitte«, sagte der Mann.
    »Aber in einem so intimen Moment ist es doch sicherlich...«
    »Nein, nein, bitte. Meine Schwester und die anderen würden sich sehr geehrt fühlen. Bitte, hier entlang.«
    Nur widerstrebend folgte ich ihm schließlich. Der Boden wurde schlammiger, als wir zwischen den Gräbern vorwärtsgingen. Zunächst konnte ich die Witwe in den Reihen dunkler, vornübergeneigter Rücken nicht ausmachen, doch als wir zu der Gruppe traten, entdeckte ich sie ganz vorn, über das offene Grab gebeugt. Ihr Kummer schien so unermeßlich, daß es so aussah, als würde sie sich gleich auf den Sarg werfen. Und genau deshalb stand vielleicht auch ein alter, weißhaariger Herr neben ihr und hielt sie fest beim Arm und bei der Schulter. Die meisten Leute hinter ihr schluchzten in offenbar aufrichtiger Trauer, doch trotzdem waren die gequälten Klagelaute der Witwe deutlich herauszuhören – langsames, erschöpftes und dennoch schockierend inbrünstiges Wehklagen, wie es von einem Opfer langandauernder Folter kommen könnte. Ich hätte mich am liebsten weggedreht, doch der untersetzte Mann bedeutete mir jetzt durch Gesten, daß ich nach vorn gehen sollte. Als ich mich nicht rührte, flüsterte er nicht allzu leise:
    »Bitte, Mr. Ryder.«
    Das veranlaßte einige Trauergäste, sich zu uns umzudrehen.
    »Hier entlang, Mr. Ryder.«
    Der untersetzte Mann nahm mich beim Arm, und wir bahnten uns einen Weg durch die Menge. Dabei drehten sich mir etliche Gesichter zu, und ich hörte wenigstens zwei Stimmen murmeln: »Das ist Mr. Ryder.« Als wir vorne angelangt waren, hatte sich das Geschluchze ein wenig gelegt, und ich spürte viele Blicke in meinem Rücken. Ich nahm eine Haltung stillen Respekts an, wobei ich mir aber schmerzlich bewußt war, daß ich ein lässiges, hellgrünes Jackett und noch nicht einmal eine Krawatte trug. Zudem hatte mein Hemd ein recht aufdringliches orange-gelbes Muster. Schnell knöpfte ich das Jackett zu, während der untersetzte Mann versuchte, die Aufmerksamkeit der Witwe auf uns zu lenken.
    »Eva«, sagte er sanft. »Eva.«
    Obwohl der weißhaarige Herr zu uns herschaute, gab die Witwe durch nichts zu erkennen, daß sie etwas gehört hatte. Sie blieb in ihren Schmerz versunken, und ihre Klagelaute ergossen sich über das Grab. Sichtlich verlegen schaute mich ihr Bruder an.
    »Bitte«, flüsterte ich und fing an, mich zurückzuziehen, »ich werde mein Beileid ein wenig später aussprechen.«
    »Nein, nein, Mr. Ryder, bitte. Nur einen Moment.« Der untersetzte Mann legte jetzt seiner Schwester eine Hand auf die Schulter und sagte noch einmal, diesmal mit deutlich vernehmbarer Ungeduld: »Eva. Eva.«
    Die Witwe richtete sich auf, brachte ihr Schluchzen unter Kontrolle und drehte sich dann schließlich zu uns um.
    »Eva«, sagte ihr Bruder. »Mr. Ryder ist gekommen.«
    »Mr. Ryder?«
    »Mein tiefempfundenes Beileid, gnädige Frau«, sagte ich und neigte ernst den Kopf.
    Die Witwe starrte mich immer nur weiter an.
    »Eva!« zischte der Bruder.
    Die Witwe schrak zusammen, schaute zu ihrem Bruder und dann wieder zu mir.
    »Mr. Ryder«, sagte sie mit überraschend gefaßter Stimme, »das ist wirklich eine Ehre. Hermann« – sie deutete auf das Grab – »ist ein großer Bewunderer von Ihnen.« Dann plötzlich wurde sie wieder von Schluchzern überwältigt.
    »Eva!«
    »Gnädige Frau«, sagte ich schnell, »ich bin lediglich gekommen, um Ihnen mein tiefstes Mitgefühl auszusprechen. Es tut mir wirklich sehr leid. Aber bitte, gnädige Frau, Sie alle, ich will Sie jetzt lieber Ihrem Schmerz überlassen...«
    »Mr. Ryder«, sagte die Witwe, und ich sah, daß sie sich wieder gefaßt hatte. »Es ist wirklich eine große Ehre für uns. Ich bin sicher, jeder hier wird mir zustimmen, wenn ich sage, daß wir uns alle außerordentlich, zutiefst geschmeichelt fühlen.«
    Ein Chor zustimmenden Gemurmels erhob sich hinter mir.
    »Ach, Mr. Ryder«, fuhr die Witwe fort, »wie gefällt es Ihnen denn in unserer Stadt? Ich hoffe sehr, es gibt das eine oder andere, das für Sie von Interesse ist.«
    »Es gefällt mir sehr. Alle sind hier so freundlich. Eine prächtige Gemeinde. Es tut mir sehr leid, das mit dem... mit dem Todesfall.«
    »Vielleicht hätten Sie gern eine Erfrischung. Etwas Tee oder Kaffee vielleicht?«
    »Nein, nein, wirklich, bitte...«
    »Bleiben Sie doch und trinken Sie wenigstens etwas. Ach herrje, hat denn niemand etwas Tee oder Kaffee

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