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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Rand des offenen Grabes zurück.
    »Kommen Sie«, hörte ich ihn leise sagen. »Kommen Sie jetzt.«
    Langsam gingen sie durch das Laub am Boden, bis sie wieder am Grab stand und auf den Sarg hinunterschaute. Als die Witwe wieder angefangen hatte zu schluchzen, zog sich Brodsky vorsichtig zurück und machte einen Schritt nach hinten. Inzwischen weinten auch etliche andere wieder, und mir wurde klar, daß bald alles wieder so sein würde wie vor meinem Eintreffen. Für den Augenblick jedenfalls stand ich nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und ich beschloß, die Gelegenheit zu ergreifen und mich davonzumachen.
    Leise stand ich auf, und es gelang mir, mich an mehreren Gräbern vorbeizustehlen, als ich hörte, daß jemand ganz nah hinter mir herlief. Eine Stimme ließ sich vernehmen.
    »Ja, in der Tat, Mr. Ryder, es ist höchste Zeit, daß Sie sich auf den Weg in den Konzertsaal machen. Man kann nie wissen, welche Änderungen womöglich noch nötig sind.«
    Ich drehte mich um und erkannte Pedersen, den älteren Stadtrat, den ich an meinem ersten Abend im Kino getroffen hatte. Außerdem wurde mir klar, daß es seine Stimme gewesen war, die ich vorhin ganz sanft hinter meiner Schulter gehört hatte.
    »Ach, Mr. Pedersen«, sagte ich, als er zu mir aufschloß und dann neben mir Schritt hielt. »Ich bin wirklich froh, daß Sie mich an den Konzertsaal erinnern. Nachdem sich die Gefühle da drüben so hochgeschaukelt hatten, habe ich vollkommen die Zeit vergessen.«
    »Ja, tatsächlich, und mir ging es ganz ähnlich«, sagte Pedersen und lachte kurz auf. »Und auch ich muß zu einer Sitzung. Die natürlich kaum von vergleichbarer Bedeutung ist, aber trotzdem, es hat etwas mit heute abend zu tun.«
    Wir erreichten den grasbewachsenen Pfad, der mitten durch den Friedhof ging, und blieben beide stehen.
    »Vielleicht könnten Sie mir behilflich sein, Mr. Pedersen«, sagte ich und schaute mich um. »Es war verabredet, daß mich ein Wagen in den Konzertsaal bringt, er müßte eigentlich hier auf mich warten. Es ist nur so, daß ich nicht mehr genau weiß, wie ich wieder zur Straße zurückkomme.«
    »Das zeige ich Ihnen gern, Mr. Ryder. Bitte folgen Sie mir.«
    Wir gingen weiter, weg von dem Hügel, den ich zusammen mit Brodsky heruntergekommen war. Über dem Tal ging jetzt die Sonne unter, und die Schatten der Grabsteine waren inzwischen deutlich länger geworden. Als wir weitergingen, spürte ich bei mindestens zwei Gelegenheiten, daß Pedersen etwas sagen wollte, doch jedesmal schien er es sich anders zu überlegen. Schließlich sagte ich ganz sachlich:
    »Ein paar von den Leuten vorhin. Die schienen wirklich außerordentlich gut informiert zu sein. Ich meine, über die Fotos vor dem Sattler-Haus.«
    Pedersen lächelte verlegen und mied meinen Blick. »Tja, wie soll ich das erklären?« sagte er schließlich. »Für einen Außenstehenden ist das wirklich nicht leicht zu verstehen. Nicht einmal für einen Experten, wie Sie einer sind. Es ist ganz und gar nicht einsichtig, wieso Max Sattler – ja, wieso diese ganze Episode der Stadtgeschichte – den Leuten hier inzwischen so viel bedeutet. Auf dem Papier hört sich das kaum nach etwas Besonderem an. Und es ist ja auch alles schon fast hundert Jahre her. Aber sehen Sie, Mr. Ryder, wie Sie ja zweifellos inzwischen bemerkt haben, hat Sattler sich einen Platz in der Phantasie der Menschen hier erobert. Er hat, wenn Sie so wollen, geradezu mythische Bedeutung erlangt. Zuweilen wird er gefürchtet, zuweilen empfindet man Abscheu vor ihm. Und bei wieder anderen Gelegenheiten huldigt man seinem Andenken. Tja, wie soll ich das erklären? Lassen Sie es mich so versuchen. Da gibt es einen gewissen Mann, den ich kenne, einen guten Freund. Schon recht betagt inzwischen, aber er hat kein schlechtes Leben gehabt. Er ist hoch angesehen hier und spielt immer noch eine aktive Rolle in allem, was die Stadt betrifft. Wirklich kein schlechtes Leben. Doch immer wieder einmal blickt dieser Mann zurück auf das Leben, das er geführt hat, und fragt sich, ob er nicht gewisse Dinge einfach nur so hat vorübergehen lassen. Er fragt sich, wie alles gekommen wäre, wenn er etwas weniger, nun ja, etwas weniger ängstlich gewesen wäre. Etwas weniger ängstlich und etwas leidenschaftlicher.«
    Pedersen lachte kurz auf. Der Pfad hatte inzwischen eine Biegung gemacht, und ich sah vor uns das dunkle Eisentor des Friedhofs.
    »Dann mag er wohl, Sie wissen schon, zurückdenken«, fuhr Pedersen fort. »An

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