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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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wie in mir etwas nachgab. Mir wurde bewußt, daß ich die Lage am Vortag unerklärlicherweise falsch eingeschätzt haben mußte, als ich mich entschied, mich vor dem Sattler-Haus fotografieren zu lassen. Zu dem Zeitpunkt war es mir allerdings als der eindrucksvollste Weg erschienen, den Bürgern dieser Stadt ein angemessenes Zeichen zu senden. Das Für und Wider in dieser Sache war mir nur allzu bewußt gewesen – mir fiel wieder ein, wie ich an jenem Morgen beim Frühstück beide Möglichkeiten sorgfältig abgewogen hatte -, aber nun erkannte ich, daß an der Sache mit dem Sattler-Haus möglicherweise mehr war, als ich geahnt hatte.
    Ermutigt durch den jungen Mann mit dem Mondgesicht, hatten noch mehr Leute angefangen, in meine Richtung zu schreien. Wieder andere versuchten, sie zurückzuhalten, wenn auch nicht mit der Vehemenz, die man hätte erwarten können. Dann nahm ich in dem Geschrei eine neue Stimme wahr, die sanft direkt hinter meiner Schulter erklang. Es war eine männliche Stimme, kultiviert und ruhig, die mir irgendwie bekannt vorkam.
    »Mr. Ryder«, hörte ich die Stimme. »Mr. Ryder. Der Konzertsaal. Sie sollten sich wirklich auf den Weg machen. Man wird dort schon auf Sie warten. Wirklich, Sie sollten ausreichend Zeit einkalkulieren, die Einrichtungen und die Bedingungen dort zu prüfen...«
    Dann wurde die Stimme übertönt, als direkt vor mir ein ganz besonders lauter Wortwechsel ausbrach. Der junge Mann mit dem Mondgesicht deutete auf mich und sagte irgend etwas wieder und immer wieder.
    Dann senkte sich ganz plötzlich eine Stille über die Menge. Zuerst dachte ich, die Trauergäste hätten sich endlich beruhigt und würden erwarten, daß ich etwas sagte. Doch dann merkte ich, daß der junge Mann mit dem Mondgesicht – und nicht nur er – auf einen Punkt irgendwo oberhalb meines Kopfes starrte. Erst Sekunden später kam mir in den Sinn, daß ich mich umdrehen sollte, und da sah ich, daß sich Brodsky auf ein Grab gestellt hatte und nun direkt über mir stand.
    Vielleicht war es einfach nur der Winkel, aus dem ich zu ihm aufschaute – er hatte sich leicht nach vorn geneigt, so daß ich gegen den weithin sich erstreckenden Hintergrund des Himmels viel von der Unterseite seines Kinns sah -, aber es war etwas entschieden Gebieterisches an ihm. Er schien wie eine riesige Statue über uns aufzuragen, seine Handflächen hatte er in die Luft gereckt. Tatsächlich blickte er auf die Versammlung, als würde er auf ein Orchester blicken – nur Sekunden, bevor er mit dem Dirigieren beginnen würde. Etwas an ihm deutete darauf hin, daß er eine merkwürdige Autorität über genau dieselben Gefühle ausübte, denen die Leute vor ihm gerade freien Lauf gelassen hatten, daß er diese Gefühle ganz nach Belieben anschwellen und wieder dämpfen konnte. Das Schweigen dauerte noch eine Weile an. Dann ließ sich eine einzelne Stimme vernehmen:
    »Was wollen Sie denn? Sie alter Trunkenbold!«
    Vielleicht hatte der Mann mit diesem Geschrei angefangen, um eine weitere Salve von Beschimpfungen auszulösen. Doch die Anwesenden ließen durch nichts erkennen, daß sie ihn gehört hatten.
    »Sie alter Trunkenbold!« versuchte der Mann es noch einmal, aber seine Stimme hatte schon an Überzeugung verloren.
    Dann, als sich aller Augen auf Brodsky gerichtet hatten, war es ganz ruhig. Nach einer Pause, die mir unangemessen lang erschien, sagte Brodsky: »Wenn Sie mich so nennen wollen, na schön. Wir werden ja sehen. Wir werden ja sehen, was ich bin. In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten. Wir werden ja sehen, ob das alles ist, was ich bin.«
    Er hatte ganz ohne Hast gesprochen, mit einer ruhigen Kraft, die den Eindruck, den er anfänglich gemacht hatte, keineswegs abschwächte. Sichtlich fasziniert starrten die Trauergäste weiter zu ihm hinauf. Dann sagte Brodsky sanft:
    »Einer, den ihr liebtet, ist gestorben. Dies ist ein ganz besonderer Moment.«
    Ich fühlte, wie mir der Saum seines Regenmantels über den Hinterkopf strich, und ich merkte, daß er der Witwe die Hand entgegenstreckte.
    »Dies ist ein ganz besonderer Moment. Kommen Sie. Liebkosen Sie jetzt Ihre Wunde. Sie wird Ihnen bis ans Ende Ihres Lebens bleiben. Aber liebkosen Sie sie jetzt, solange sie noch offen ist und blutet. Kommen Sie.«
    Brodsky kam von dem Grab herunter. Die Witwe ergriff seine ausgestreckte Hand mit einem verträumten Gesichtsausdruck, und dann faßte Brodsky mit der anderen Hand hinter sie und führte sie allmählich und sacht an den

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