Die Ungetroesteten
einen Dreh- und Angelpunkt irgendwann in seiner Jugend, bevor seine Ansichten derart festgefügt waren. Er erinnert sich, sagen wir einmal, an einen Augenblick, in dem eine Frau versucht hat, ihn zu verführen. Natürlich hat er das nicht zugelassen, dazu war er viel zu anständig. Vielleicht war es aber auch Feigheit. Oder er war zu jung, wer weiß? Er fragt sich, was gewesen wäre, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hätte, wenn er etwas zuversichtlicher gewesen wäre... in Dingen der Liebe und der Leidenschaft. Sie wissen ja, wie das ist, Mr. Ryder. Sie wissen ja, wie alte Männer manchmal ins Träumen geraten und sich fragen, wie alles gewesen wäre, wenn ein Schlüsselmoment anders verlaufen wäre. Nun ja, genauso kann es einer Stadt, einer Gemeinde ergehen. Immer wieder einmal blickt sie zurück, blickt zurück auf ihre Geschichte und fragt sich: ›Was wäre, wenn? Was wäre aus uns geworden, wenn wir nur...‹ Ach, Mr. Ryder, wenn wir nur was? Wenn wir Max Sattler gestattet hätten, uns dahin zu führen, wo er uns haben wollte? Wären wir dann heute etwas völlig anderes? Wären wir heute eine Stadt wie Antwerpen? Wie Stuttgart? Ehrlich gesagt, das glaube ich nicht, Mr. Ryder. Sie müssen wissen, es gibt gewisse Dinge in dieser Stadt, gewisse Dinge, die so tief verwurzelt sind. Die werden sich nie ändern, nicht in fünf, in sechs oder in sieben Generationen. Was den Alltag hier betrifft, ist Sattler völlig ohne Bedeutung geblieben. Er war einfach nur ein Mann mit verrückten Träumen. Nie im Leben hätte er irgend etwas von Grund auf ändern können. Genau wie bei diesem Freund von mir. Er ist, wie er ist. Keine Erfahrung, und wäre sie auch noch so bedeutungsvoll gewesen, hätte ihn ändern können. So, Mr. Ryder, da wären wir. Wenn Sie dort die Stufen hinuntergehen, gelangen Sie wieder auf die Straße.«
Wir waren durch das große Eisentor des Friedhofs gegangen und standen jetzt in einer weitläufigen, sehr sorgfältig gestalteten Parklandschaft. Pedersen deutete auf eine Hecke zu meiner Linken, hinter der ich einige Steinstufen sehen konnte, die in einem sanften Bogen hinunterführten. Ich zögerte einen Augenblick, dann sagte ich:
»Sie sind außerordentlich freundlich gewesen, Mr. Pedersen. Aber lassen Sie mich Ihnen folgendes versichern: Sollte ich da eine Fehlentscheidung getroffen haben, dann bin ich nicht der Typ, der sich dem entzieht und sich versteckt. Jedenfalls ist das etwas, womit sich ein Mensch in meiner Position abfinden muß. Damit will ich sagen, daß ich im Laufe eines Tages immer wieder aufgefordert werde, wichtige Entscheidungen zu treffen, und die Wahrheit ist, daß ich allenfalls die zu dem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Informationen so gewissenhaft wie nur möglich abwägen und mich dann vorsichtig vorwärtstasten kann. Ja, zuweilen läßt es sich einfach nicht vermeiden, daß ich etwas falsch einschätze. Wie könnte es auch anders sein? Das ist etwas, womit ich mich schon längst abgefunden habe. Und Sie sehen ja, wenn so etwas dann passiert, gilt meine einzige Sorge der Frage, wie ich bei der erstbesten Gelegenheit den Fehler wiedergutmachen kann. Also bitte, genieren Sie sich nicht, sprechen Sie ganz offen mit mir. Wenn Sie meinen, daß es ein Fehler war, vor dem Sattler-Haus zu posieren, dann sagen Sie es bitte.«
Pedersen fühlte sich sichtlich unwohl. Er schaute zu einem großen Grabmal in der Ferne und sagte dann: »Na ja, Mr. Ryder, das ist ja nur meine Meinung.«
»Es ist mir sehr daran gelegen, Ihre Meinung zu hören, Mr. Pedersen.«
»Na ja, wenn Sie es wollen. Ja, Mr. Ryder. Um ganz ehrlich zu sein, ich war sehr enttäuscht, als ich heute morgen die Zeitung aufgeschlagen habe. Wie ich ja schon erklärt habe, entspricht es einfach nicht dem Wesen dieser Stadt, die Extreme eines Sattler bereitwillig anzunehmen. Gewisse Leute finden ihn faszinierend, gerade weil er so weit von allem entrückt ist, weil er hier in der Gegend zu einer Art Legende geworden ist. Wenn man ihn als ernsthafte Alternative hinstellt... also dann, Mr. Ryder, um ganz ehrlich zu sein, werden die Leute hier in Panik geraten. Sie werden zurückschrecken. Sie werden plötzlich feststellen, daß sie sich an das klammern, was ihnen immer schon vertraut war, ganz gleich, welches Unheil das auch über sie gebracht haben mag. Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, Mr. Ryder. Ich glaube, durch die Tatsache, daß man Max Sattler ins Gespräch gebracht hat, ist die Aussicht auf Fortschritt
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