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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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anbahnt, dann ist das etwas, was Sie sich völlig zu Recht als Verdienst anrechnen können, Mr. Hoffman.«
    »Ja, ja.« Hoffman grübelte über irgend etwas nach, er hatte die Stirn gerunzelt. »Mr. Brodsky ist jetzt auf dem Friedhof? Und wartet auf Miss Collins? Wie merkwürdig. Wirklich sehr merkwürdig.«
    Je näher wir der Stadtmitte kamen, desto dichter wurde der Verkehr, bis wir an einer Stelle, in einer schmalen Seitenstraße, ganz ins Stocken gerieten. Hoffman, der immer besorgter geworden war, drehte sich jetzt wieder zu mir um.
    »Da gibt es etwas, das ich erledigen muß, Mr. Ryder. Ich meine, ich werde auf jeden Fall rechtzeitig bei Ihnen im Konzertsaal sein, aber jetzt im Augenblick...« Sichtlich in Panik, schaute er auf die Uhr. »Sehen Sie, ich muß etwas... etwas erledigen...« Dann umklammerte er das Lenkrad und starrte mich unverwandt an. »Es ist so, Mr. Ryder. Aufgrund dieses fürchterlichen Einbahnstraßensystems und dieses teuflischen Berufsverkehrs werden wir noch eine ganze Weile brauchen, um zum Konzertsaal zu kommen. Zu Fuß dagegen...« Plötzlich deutete er an mir vorbei zum Fenster hinaus. »Dort ist es. Direkt vor Ihren Augen. Gerade einmal ein paar Minuten zu Fuß. Ja, Mr. Ryder, das Dach dort.«
    Ich sah ein riesiges kuppelförmiges Dach, das alle anderen Gebäude in der Nähe überragte. Ganz gewiß schien es nicht mehr als drei oder vier Blocks entfernt zu sein.
    »Also, Mr. Hoffman«, sagte ich, »wenn Sie so dringend etwas erledigen müssen, gehe ich auch ganz gern zu Fuß hin.«
    »Wirklich? Sie würden mir das nicht übelnehmen?«
    Die Autos bewegten sich einige Zentimeter vorwärts und blieben dann wieder stehen.
    »Also, ich würde tatsächlich gern ein wenig laufen«, sagte ich. »Es sieht so aus, als sei es ein wirklich angenehmer Abend. Und wie Sie ja sagten, es ist zu Fuß nicht weit...«
    »Dieses höllische Einbahnstraßensystem! Wir würden noch eine Stunde in diesem Wagen hocken! Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, Mr. Ryder, wenn Sie mir das nicht übelnehmen würden. Aber sehen Sie, da ist etwas, um das ich mich... um das ich mich einfach kümmern muß…«
    »Ja, ja, natürlich. Ich steige hier aus. Es ist sehr freundlich von Ihnen gewesen, mich so herumzufahren, noch dazu, wo Sie derart beschäftigt sind im Moment. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.«
    »Sie werden sich dem Gebäude von hinten nähern. Sie müssen einfach immer nur auf dieses Dach zugehen. Sie können es nicht verfehlen, wenn Sie immer das Dach im Auge behalten...«
    »Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Ich schaffe das schon«, unterbrach ich seine Entschuldigungen und bedankte mich noch einmal bei ihm, und dann trat ich auf den Bürgersteig hinaus.

    Bald ging ich eine schmale Straße hinunter, an einer Reihe von Fachbuchhandlungen vorüber, dann an einigen einladenden Touristenhotels entlang. Es war keineswegs schwierig, das Kuppeldach im Auge zu behalten, und für kurze Zeit war ich dankbar, mich an der frischen Luft bewegen zu können.
    Doch als ich erst einmal zwei oder drei Blocks weit gegangen war, hatten sich etliche beunruhigende Gedanken in meinem Kopf festgesetzt, die ich nicht wieder vertreiben konnte. Zunächst einmal war mir klar, daß weit mehr als nur eine vage Möglichkeit bestand, die Frage-und-Antwort-Runde könne bei weitem nicht so glatt ablaufen. Tatsächlich konnte man, wenn die Intensität der auf dem Friedhof zur Schau gestellten Gefühle ein Anhaltspunkt war, die Möglichkeit häßlicher Szenen nicht ausschließen. Darüber hinaus war es durchaus denkbar, daß meine Eltern, wenn die Frage-und-Antwort-Runde eher schlecht lief, das Schauspiel mit wachsendem Entsetzen und wachsender Verlegenheit quittieren und dann darum bitten würden, aus dem Zuschauerraum geführt zu werden. Mit anderen Worten, sie würden gehen, bevor ich noch Gelegenheit gehabt hätte, an den Flügel zu treten, und kein Mensch könnte dann mehr sicher sein, wann sie das nächste Mal zu einem meiner Auftritte kommen würden. Ja, schlimmer noch, wenn alles wirklich ganz besonders schlecht lief, war es gar nicht so abwegig, daß einer von beiden womöglich einen Anfall erlitt. Ich war mir nach wie vor sehr sicher, daß mein Vater und meine Mutter in gemeinsamem Erstaunen vereint sein würden – nur Sekunden, nachdem ich zu spielen begonnen hätte, doch bis dahin stand mir die Frage-und-Antwort-Runde höchst hinderlich im Weg.
    Ich merkte auf einmal, daß ich so sehr in Gedanken versunken gewesen

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