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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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war, daß das Kuppeldach hinter einigen Gebäuden kaum noch zu sehen war. Zunächst hielt ich das für nicht weiter schlimm, da ich annahm, das Dach würde bald wieder ins Blickfeld kommen. Doch als ich dann weiterging, wurde die Straße immer schmaler, während die Häuser um mich herum alle sechs oder sieben Stockwerke zu haben schienen, so daß ich kaum ein Stück Himmel sehen konnte, geschweige denn das Kuppeldach. Ich beschloß, nach einer Parallelstraße Ausschau zu halten, doch dann stellte ich fest, daß ich, kaum daß ich um die nächste Ecke gebogen war, von einer kleinen Seitenstraße in die nächste geriet, wobei ich höchstwahrscheinlich immer im Kreis herumging, und von dem Konzertsaal war weit und breit nichts mehr zu sehen.
    Nachdem das einige Minuten so gegangen war, überwältigte mich allmählich ein Gefühl der Panik, und ich wollte schon stehenbleiben und jemanden nach dem Weg fragen. Doch dann wurde mir klar, daß das nicht sehr klug wäre. Während der ganzen Zeit, in der ich hier herumgegangen war, hatten sich die Leute nach mir umgedreht – manchmal waren sie sogar wie angewurzelt stehengeblieben – und hatten mich angestarrt. Ich hatte das zwar irgendwie wahrgenommen, obwohl ich in meinem Bemühen, mich zurechtzufinden, darüber kaum nachgedacht hatte. Doch nachdem nun die Veranstaltung des heutigen Abends so unmittelbar bevorstand und nachdem soviel davon abhing, begriff ich, daß es wohl keinen guten Eindruck machte, wenn man mich sehen würde, wie ich so offensichtlich ziellos und verunsichert durch die Straßen hastete. Mit einiger Anstrengung richtete ich mich gerade auf und nahm die Haltung eines Menschen an, dessen Angelegenheiten alle wohlgeordnet waren und der einen entspannenden Spaziergang durch die Stadt machte. Ich zwang mich, langsamer zu gehen, und lächelte allen freundlich zu, die in meine Richtung schauten.
    Schließlich bog ich um eine weitere Ecke und sah den Konzertsaal plötzlich ganz nahe vor mir. Die Straße, auf der ich jetzt lief, war breiter, und zu beiden Seiten gab es hell erleuchtete Cafés und Geschäfte. Das Kuppeldach war nur noch ein oder zwei Blocks weit weg, genau an der Stelle, an der die Straße hinten eine Biegung machte und aus dem Blickfeld verschwand.
    Ich fühlte mich nicht nur erleichtert, sondern auch wesentlich wohler, was den bevorstehenden Abend betraf. Die Überzeugung, die ich vorher schon einmal gehabt hatte – daß sich nämlich alles von allein regeln würde, wenn ich erst einmal den Ort des Geschehens erreicht hatte und auf der Bühne stand -, kehrte zurück, und mit einem Gefühl, das man fast Begeisterung nennen konnte, machte ich mich auf den Weg die Straße hinunter.
    Doch als ich um die Ecke gebogen war, bot sich mir ein äußerst merkwürdiger Anblick. Nur ein kleines Stück weiter weg befand sich genau vor mir eine Ziegelsteinmauer – ja, sie erstreckte sich sogar über die ganze Breite der Straße. Mein erster Gedanke war, daß hinter der Mauer Eisenbahngleise verliefen, doch dann sah ich, daß die oberen Stockwerke der Gebäude zu beiden Seiten der Straße ununterbrochen auch jenseits der Mauer bis in größere Entfernung weitergingen. Solange die Mauer meine Neugierde erregte, sah ich sie nicht unmittelbar als Problem an, denn ich rechnete damit, daß ich, sobald ich sie erreicht hatte, einen Durchgang oder eine Unterführung finden würde, die mich auf die andere Seite brachte. Auf jeden Fall war das Kuppeldach jetzt ganz nahe, und Scheinwerfer ließen es vor dem dunkel werdenden Himmel erstrahlen.
    Erst als ich direkt vor der Mauer stand, begriff ich, daß es keine Möglichkeit gab, um die Mauer herumzukommen. Die Bürgersteige zu beiden Seiten der Straße hörten einfach schlagartig vor dem Mauerwerk auf. Verwirrt schaute ich mich um, dann ging ich an der Mauer entlang auf den gegenüberliegenden Bürgersteig, ich wollte einfach nicht einsehen, daß es nirgendwo einen Durchgang, nicht einmal ein kleines Loch gab, durch das man hätte kriechen können. Ich konnte nichts entdecken, und nachdem ich schließlich eine ganze Weile hilflos vor der Mauer gestanden hatte, winkte ich einer Passantin zu – einer Frau mittleren Alters, die gerade aus einem nahe gelegenen Geschenkartikelladen kam – und sagte zu ihr:
    »Entschuldigen Sie, ich möchte zum Konzertsaal. Wie komme ich denn an dieser Mauer vorbei?«
    Meine Frage schien die Frau zu überraschen. »O nein«, antwortete sie. »An der Mauer kommen Sie nicht vorbei.

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