Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
habe ich früher immer gemacht, bei Nacht an die Tür geklopft und geklopft, und am Ende haben sie dann immer die Polizei geholt. Aber ich habe gesagt, nein, Sie Idiot, ich bin nicht mehr betrunken. Ich hatte einen Unfall, und jetzt bin ich nüchtern, ich sehe alles ganz klar. Das habe ich alles zu ihm hinaufgeschrien, zu diesem Nachbarn, einem fetten alten Mann. Ich sehe jetzt alles ganz deutlich, ich sehe jetzt alles, was er die ganze Zeit versucht hat zu tun, ja, das habe ich zu ihm hinaufgeschrien. Und dann ist sie zur Tür gekommen, ja, sie, sie ist gekommen, und sie hat mich mit ihrem Nachbarn reden hören, und ich habe sie durch die Glasscheibe gesehen, und ich wußte nicht, was ich tun sollte, also habe ich den Nachbarn sein lassen und habe angefangen, mit ihr zu reden. Sie hat zugehört, aber zuerst hat sie die Tür nicht aufgemacht, aber dann habe ich gesagt, sieh mal, ich hatte einen Unfall, und da hat sie die Tür dann aufgemacht. Wo ist denn dieser Schneider? Wo ist er bloß hingegangen? Er sollte mir doch meine Jacke fertigmachen.« Brodsky schaute sich um, und eine Stimme hinten aus der Menge war zu hören:
    »Er ist gleich wieder da, Mr. Brodsky. Ja, hier ist er ja schon.«
    Ein kleiner Mann mit einem Bandmaß tauchte auf und fing an, bei Brodsky Maß zu nehmen.
    »Was soll denn das? Was soll denn das?« murmelte Brodsky ungeduldig. Dann sagte er zu mir: »Ich habe keinen Anzug. Sie hatten schon einen fertig, er wurde mir ins Haus geliefert, haben sie gesagt. Wer weiß? Ich hatte diesen Unfall, ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Sie müssen mir eben einen neuen besorgen. Einen Anzug und ein Frackhemd, ich will das Beste für heute abend. Sie wird sehen, was ich all die Jahre immer gemeint habe.«
    »Mr. Brodsky«, sagte ich, »Sie sprechen da über Miss Collins. Verstehe ich recht, daß es Ihnen gelungen ist, sie schließlich doch noch zu überreden, heute abend zu kommen?«
    »O ja, sie wird kommen. Das hat sie versprochen. Sie wird ihr Wort nicht noch ein zweites Mal brechen. Sie ist einfach nicht auf den Friedhof gekommen. Ich habe gewartet und gewartet, aber sie ist einfach nicht gekommen. Aber das ist nicht ihre Schuld gewesen. Er war das, der Hoteldirektor, er hat ihr Angst gemacht. Aber ich habe ihr gesagt, es ist jetzt zu spät zum Angst haben. Wir hatten unser ganzes Leben lang Angst, und jetzt müssen wir mutig sein. Zuerst hat sie nicht zugehört. Was hast du bloß gemacht, hat sie andauernd gefragt. Sie war nicht so wie sonst, sie hat beinahe geweint, hat sich die Hände vor das Gesicht gehalten und beinahe geweint, es war ihr sogar egal, daß die Nachbarn alles hören konnten. Es war mitten in der Nacht, und sie hat gesagt, Leo, Leo – ja, sie nennt mich jetzt so -, Leo, was hast du denn nur mit deinem Bein gemacht? Da ist ja alles voller Blut. Und ich habe gesagt, das ist nichts, das macht nichts. Ein Unfall, aber es kam gerade ein Arzt vorbei, kümmere dich jetzt gar nicht darum, habe ich zu ihr gesagt, viel wichtiger ist im Moment, daß du heute abend kommst. Hör nicht auf diesen Widerling vom Hotel, diesen... diesen Hotelpagen. Wir haben nur noch so wenig Zeit. Heute abend wird sie sehen, was ich immer schon im Sinn hatte. In all den Jahren bin ich keineswegs der Idiot gewesen, für den sie mich gehalten hat. Und sie hat gesagt, sie könne nicht kommen, sie sei nicht fertig, und übrigens, hat sie gesagt, werden dann nur all diese Wunden wieder aufbrechen. Und ich habe gesagt, hör nicht auf diesen Hotelpagen, diesen Hausmeister, dafür ist es jetzt zu spät. Und sie hat mit dem Finger gezeigt und gesagt, aber was ist denn passiert, dein Bein, es blutet ja, und ich habe gesagt, kümmere dich nicht darum, ich habe sie angeschrien in dem Moment. Kümmere dich nicht darum, habe ich gesagt. Siehst du denn nicht, ich muß dich dort haben! Du mußt einfach kommen! Du mußt es selbst sehen, du mußt kommen! Da habe ich dann gesehen, daß sie gemerkt hat, wie ernst es mir war. Ich sah ihre Augen und wie sich darin etwas veränderte, wie die Angst verschwand, wie etwas zum Leben erwachte, und ich wußte, daß ich endlich gewonnen und dieser Hoteltoilettenmann verloren hatte. Und ich sagte zu ihr, ganz leise, ich sagte jetzt zu ihr: ›Du wirst also kommen?‹ Und sie hat ruhig genickt, und ich wußte, ich konnte mich auf sie verlassen. Ohne den Schatten eines Zweifels, Ryder. Sie hat genickt, und ich wußte, ich konnte mich auf sie verlassen, also habe ich mich umgedreht und bin weggegangen.

Weitere Kostenlose Bücher