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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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einmal versucht, Ihnen das zu erzählen, Mr. Hoffman. Ihr Sohn verfügt über außerordentliches Talent, und was auch immer heute abend passiert, ich bin sicher, sein Auftritt wird eine Sensation.«
    »Was denn, das glauben Sie wirklich? Aber Tatsache ist doch, Mr. Ryder, daß Stephan hier, daß er... daß er...« Hoffman schien doch recht verwirrt zu sein, und mit einem kurzen Auflachen klopfte er seinem Sohn auf den Rücken. »Tja dann, Stephan, scheint es ja so, als ob du uns heute abend womöglich etwas bieten wirst.«
    »Das hoffe ich, Vater. Aber Mutter ist immer noch im Foyer. Vielleicht wartet sie ja einfach nur auf dich. Ich meine, eine Frau, die bei einer solchen Gelegenheit ganz allein dasitzt, na ja, das ist immer ein wenig peinlich. Vielleicht ist das ja der Grund. Sobald du hineingehst und dich auf deinen Platz setzt, kommt sie vielleicht auch herein und setzt sich zu dir. Es ist ja nur so, daß ich sehr bald schon dran bin.«
    »Na schön, Stephan, ich kümmere mich darum. Mach dir keine Sorgen. Jetzt gehst du am besten wieder in deine Garderobe und machst dich fertig. Mr. Ryder und ich haben erst noch ein paar Dinge zu erledigen.«
    Obwohl Stephan immer noch recht unglücklich aussah, ließen wir ihn stehen und gingen weiter.
    »Ich sollte Sie vorwarnen, Mr. Hoffman«, sagte ich, als wir ein Stückchen weiter den Korridor hinuntergegangen waren. »Sie werden wahrscheinlich feststellen, daß Mr. Brodsky eine leicht... nun ja, eine leicht feindselige Haltung Ihnen gegenüber eingenommen hat.«
    »Feindselig?« Hoffman wirkte überrascht.
    »Das heißt, als ich ihn vorhin sah, hat er einer gewissen Verärgerung Ihnen gegenüber Ausdruck gegeben. Er schien eine Art Groll zu hegen. Ich dachte, ich sollte Ihnen das sagen.«
    Hoffman murmelte etwas, das ich nicht verstand. Als dann der Korridor weiter seiner sanften Biegung folgte, war vor uns der Raum zu sehen, bei dem es sich offensichtlich um Brodskys Garderobe handelte – eine kleine Menschenmenge hatte sich davor versammelt. Der Hoteldirektor ging langsamer, dann blieb er ganz stehen.
    »Ich habe über das nachgedacht, was Stephan gerade gesagt hat, Mr. Ryder. Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich wohl doch lieber gehen und nach meiner Frau schauen. Mich davon überzeugen, daß es ihr gutgeht. Schließlich, an einem Abend wie diesem, Sie verstehen, die Nerven.«
    »Natürlich.«
    »Dann entschuldigen Sie mich also. Ich überlege gerade, Mr. Ryder, ob ich Sie wohl bitten dürfte nachzusehen, ob mit Mr. Brodsky da drüben auch alles in Ordnung ist. Ich denke, ja, tatsächlich« – er schaute auf die Uhr – »es ist höchste Zeit, daß ich mich an meinen Platz begebe. Stephan hatte vollkommen recht.«
    Hoffman lachte kurz auf und eilte in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren.
    Ich wartete, bis er außer Sichtweite war, dann ging ich auf die Leute zu, die sich vor Brodskys Tür versammelt hatten. Einige schienen ganz einfach nur aus Neugier dort zu stehen, während andere sich mit gesenkter Stimme in erhitzten Debatten ergingen. Der grauhaarige Chirurg hielt sich dicht bei der Tür, erklärte voller Nachdruck einem Orchestermitglied etwas, und wiederholt deutete er mit der Hand gereizt ins Innere der Garderobe. Die Tür, so sah ich zu meiner Überraschung, stand weit offen, und als ich darauf zuging, streckte der kleine Schneider, den ich vorhin schon einmal gesehen hatte, den Kopf zur Tür heraus und schrie: »Mr. Brodsky braucht eine Schere. Eine große Schere!« Jemand eilte davon, und der Schneider verschwand wieder in dem Raum. Ich drängte mich durch die Menge nach vorn und schaute in die Garderobe hinein.
    Dort saß Brodsky mit dem Rücken zur Tür und betrachtete sich in seinem Garderobenspiegel. Er trug jetzt einen Smoking, und der Schneider zupfte und zog an seinen Schultern herum. Auch ein Frackhemd trug er jetzt, aber immer noch keine Fliege.
    »Ach, Ryder«, sagte er, als er mich im Spiegel sah. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Wissen Sie, es ist lange her, daß ich so etwas getragen habe.«
    Er klang jetzt viel ruhiger als bei unserer letzten Begegnung, und ich fühlte mich an die gebieterische Haltung erinnert, die er auf dem Friedhof an den Tag gelegt hatte, als er vor die Trauergäste getreten war.
    »Jetzt, Mr. Brodsky«, sagte der Schneider und richtete sich auf, und eine Weile begutachteten die beiden die Jacke im Spiegel. Dann schüttelte Brodsky den Kopf.
    »Nein, nein. Noch ein bißchen enger«, sagte er.

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