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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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lautesten schrien, kam mir irgendwie bekannt vor, und ich versuchte, mich zu erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte, als ich ihn rufen hörte:
    »Aber Mr. Brodsky, ich muß doch wirklich sehr bitten!«
    Da erkannte ich den grauhaarigen Chirurgen, den ich vorhin im Wald kennengelernt hatte, und sah, daß jener Mann, der sich mitten in der Menge langsam mit einem Ausdruck dickköpfiger Entschlossenheit vorwärtsbewegte, doch tatsächlich Brodsky war. Er sah entsetzlich aus. Die Haut auf Gesicht und Hals war ganz weiß und furchtbar schrumplig geworden.
    »Aber er sagt doch, daß es ihm gutgeht! Wieso können Sie das ihn denn nicht entscheiden lassen?« rief ein Mann mittleren Alters im Smoking als Antwort darauf. Eine Reihe von Stimmen bekräftigte sofort diese Aussage, und im Gegenzug erhob sich Protestgeschrei.
    Mittlerweile hatte Brodsky sein langsames Voranschreiten fortgesetzt und achtete überhaupt nicht auf den Tumult um ihn herum. Zunächst sah es so aus, als würde die Menge ihn tragen, doch als er näher kam, sah ich, daß er sich allein, nur mit Hilfe einer Krücke, vorwärtsbewegte. Da war etwas an dieser Krücke, das mich genauer hinsehen ließ, und ich erkannte, daß Brodsky sich tatsächlich an einem zusammengeklappten Bügelbrett abstützte.
    Während ich dastand und mir das Schauspiel ansah, schienen die Leute mich einer nach dem anderen zu bemerken und schwiegen dann, so daß die Menge, je näher sie kam, um so stiller wurde. Doch der Chirurg rief immer weiter:
    »Mr. Brodsky! Ihr Körper hat einen sehr schweren Schock erlitten. Ich muß Sie wirklich bitten, sich hinzusetzen und sich auszuruhen!«
    Brodsky schaute nach unten und konzentrierte sich auf jeden Schritt, weswegen er mich zuerst auch nicht sah. Als er dann schließlich spürte, daß sich um ihn herum etwas verändert hatte, blickte er auf.
    »Ach, Ryder«, sagte er. »Da sind Sie ja.«
    »Mr. Brodsky. Wie fühlen Sie sich?«
    »Mir geht es gut«, sagte er ruhig.
    Die Menge hatte jetzt etwas Platz gemacht, und er legte den Abstand zwischen uns mühelos zurück. Als ich ihn beglückwünschte, weil er so schnell gelernt hatte, an einer Krücke zu gehen, schaute er zu seinem Bügelbrett hinunter, als würde er es nach langer Zeit zum erstenmal wieder sehen.
    »Der Mann, der mich hergebracht hat«, sagte er, »hatte das hier, dieses Ding, zufällig hinten in seinem Lieferwagen. Es ist gar nicht so übel. Es ist sehr stabil. Ich kann prima gehen damit. Da gibt es nur ein Problem, Ryder. Ab und zu fängt es an aufzuklappen. So etwa.«
    Er schüttelte das Brett, und tatsächlich klappte es langsam auf. Ein Haken hinderte es daran, ganz aufzugehen, aber ich sah, daß das wiederholte Aufklappen, und sei es auch nur in so geringem Maße, ein beträchtliches Ärgernis darstellen mußte.
    »Ich brauche irgendeine Schnur dafür«, sagte Brodsky leicht traurig. »Irgend so etwas. Aber dafür ist jetzt keine Zeit.«
    Als ich zu der Stelle schaute, auf die er deutete, konnte ich nicht anders, voller Entsetzen mußte ich auf sein linkes Hosenbein starren, das knapp unterhalb des Oberschenkels zu einem Knoten gebunden war.
    »Aber Mr. Brodsky«, sagte ich und zwang mich, wieder hochzuschauen, »Sie können sich doch unmöglich sehr wohl fühlen im Moment. Haben Sie denn überhaupt die Kraft, heute abend das Orchester zu dirigieren?«
    »Doch, doch. Mir geht es gut. Ich werde dirigieren, und es wird... es wird großartig sein. Genauso großartig, wie ich es mir immer schon vorgestellt habe. Und sie wird es dann erleben, mit eigenen Augen und Ohren. All diese Jahre bin ich durchaus nicht solch ein Idiot gewesen. All diese Jahre habe ich es in mir gehabt, es hat da gewartet. Sie wird mich heute abend sehen, Ryder. Es wird großartig werden.«
    »Meinen Sie Miss Collins? Aber kommt sie denn her?«
    »Sie wird herkommen, das wird sie. O ja, ja. Er hat sein Möglichstes getan, um sie davon abzuhalten, um ihr Angst zu machen, aber sie wird kommen, o ja. Ich habe sein Spiel inzwischen durchschaut. Ich war bei ihr, Ryder, erst bin ich ein ganzes Stück gegangen, das war ziemlich schwer, aber schließlich ist dieser Mann vorbeigekommen, dieser gute Mann hier« – Brodsky schaute sich in der Menge um und winkte irgend jemandem zu – »ist vorbeigekommen, er hatte einen Lieferwagen. Wir sind zu ihrer Wohnung gefahren, ich habe an die Tür geklopft, ich habe geklopft und geklopft. Irgend jemand, ein Nachbar, hat gedacht, es wäre wie früher. Wissen Sie, das

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