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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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die zufällig vorbeigingen. Auf besonders interessante Gebäude, auf das Kunsthandwerkliche Museum, auf die Brücken. Und wenn sie eine Pause eingelegt haben, um Kaffee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen, und wenn sie nicht genau wußten, was sie bestellen sollten, vielleicht wegen der Sprachschwierigkeiten, dann sind die Kellner bestimmt sehr hilfreich gewesen. O ja, sie haben sich hier sehr gut amüsiert.«
    »Aber Sie sagen, sie sind mit der Bahn gekommen. Hat ihnen denn auch jemand mit dem Gepäck geholfen?«
    »Ach, die Gepäckträger am Bahnhof sind ganz bestimmt sofort hingegangen, um ihnen zu helfen. Sie werden ihr Gepäck bis an das Taxi hinausgebracht haben, und anschließend hat sich dann der Taxifahrer darum gekümmert. Man wird sie zu ihrem Hotel gebracht haben, und das ist es dann gewesen. Ich bin sicher, sie haben an ihr Gepäck nicht einmal denken müssen.«
    »Hotel? Welches Hotel war das?«
    »Ein sehr komfortables Hotel, Mr. Ryder. Eines der besten, die es damals hier gab. Es hat ihnen ganz bestimmt ausgezeichnet gefallen, und sie haben alles genossen. Jede Minute dort haben sie genossen.«
    »Ich hoffe, es ist nicht allzu nahe an der Hauptverkehrsstraße gewesen! Meine Mutter hat Verkehrslärm nicht ausstehen können.«
    »Damals war das mit dem Verkehr nicht annähernd so ein Problem wie heute. Ich weiß noch, in meiner Kindheit habe ich oft mit meinen Freunden mitten im Wohngebiet auf der Straße mit einem Springseil oder einem Ball gespielt. Heute ist es für Kinder völlig ausgeschlossen, das zu tun! O ja, so haben wir oft gespielt, manchmal stundenlang. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, Mr. Ryder« – Miss Stratmann drehte sich mit einem wehmütigen Lächeln wieder zu mir um – »das Hotel, in dem Ihre Eltern damals gewohnt haben, lag weitab von jedem Straßenverkehr. Es war ein überaus idyllisches Hotel. Das Haus gibt es heute nicht mehr, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Bild davon zeigen. Würden Sie es gern sehen? Das Hotel, in dem Ihre Eltern damals gewohnt haben?«
    »Das würde ich sehr gern, Miss Stratmann.«
    Sie lächelte wieder und ging durch den Raum zurück auf ihren Schreibtisch zu. Ich dachte schon, sie wollte eine Schreibtischschublade öffnen, doch im letzten Moment bog sie zur rückwärtigen Wand des Büros ab. Sie streckte eine Hand aus, zog an einer Kordel und fing an, etwas herunterzuziehen, das wie eine Wandkarte aussah. Aber es war keine Karte, sondern ein riesiges Farbfoto. Sie zog es immer weiter, bis fast auf den Fußboden hinunter, bis ein Klicken der Gleitrolle signalisierte, daß die Karte fest eingerastet war. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück, knipste ihre Leselampe an und richtete den Strahl der Lampe auf das Foto.
    Eine ganze Weile betrachteten wir dann beide schweigend das Bild vor uns. Das Hotel wirkte wie eine kleinere Version dieser Art von Märchenschloß, das sich verrückte Könige im vergangenen Jahrhundert hatten erbauen lassen. Es stand unmittelbar am Rand eines steil abfallenden Tals, in dem Farnkräuter und Frühlingsblumen wuchsen. Die Fotografie war an einem sonnigen Tag von der gegenüberliegenden Seite des Tals aufgenommen worden und bot so die Art angenehmer Bildkomposition, die sich für eine Postkarte oder einen Kalender eignete.
    »Ich glaube, Ihre Eltern haben in diesem Zimmer hier gewohnt«, hörte ich Miss Stratmann sagen. Von irgendwoher hatte sie einen Zeigestock hervorgeholt und deutete auf ein Fenster in einem der Türmchen des Hotels. »Von da hätten sie einen wunderbaren Ausblick gehabt, sehen Sie?«
    »Ja, in der Tat.«
    Miss Stratmann nahm ihren Zeigestock herunter, doch ich starrte immer weiter auf das Fenster und versuchte, mir vorzustellen, welchen Ausblick man von dort wohl gehabt hätte. Vor allem meine Mutter hätte einen solchen Ausblick sehr zu schätzen gewußt. Selbst wenn sie einen ihrer schlechten Tage gehabt hätte und die ganze Zeit im Bett hätte bleiben müssen, wäre die Aussicht immer noch ein großer Trost für sie gewesen. Sie hätte beobachtet, wie der leichte Wind durch den Talgrund gegangen wäre und die Farnkräuter und das Laub der knorrigen Bäume bewegt hätte, die an den Hängen am anderen Ende des Tals emporkletterten. Auch das weite Stück Himmel hätte ihr gefallen. Dann bemerkte ich im Bildvordergrund einen Abschnitt der Hügelstraße – die durch die untere rechte Ecke des Fotos schnitt -, von der aus der Fotograf höchstwahrscheinlich die Aufnahme gemacht

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