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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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hatte. Meine Mutter hätte mit einiger Gewißheit von ihrem Zimmer aus auf diese Straße schauen können. Somit hätte sie aus der Ferne das Leben des Ortes beobachten können. Zuweilen wäre ein Auto oder ein Lieferwagen vorbeigefahren, vielleicht sogar ein Pferdefuhrwerk; ab und zu hätte man auch einen Traktor oder ein paar herumstreunende Kinder gesehen. Ein derartiger Anblick hätte ihr ganz bestimmt große Freude bereitet.
    Während ich immer noch auf das Fenster schaute, fing ich schließlich wieder an zu weinen. Nicht so unkontrolliert wie zuvor, doch die Tränen stiegen mir immer wieder in die Augen und rollten mir über das Gesicht. Miss Stratmann bemerkte meine Tränen, doch diesmal schien sie es nicht für nötig zu erachten, ihnen Einhalt zu gebieten. Sie lächelte mich sanft an, dann drehte sie sich wieder zu dem Foto um.
    Plötzlich erschreckte mich ein Klopfen an der Tür. Auch Miss Stratmann schrak zusammen. Dann sagte sie: »Entschuldigen Sie mich bitte, Mr. Ryder« und ging zur Tür.
    Ich drehte mich auf meinem Stuhl um, als ein Mann in weißer Kellnerkleidung hereinkam, der hinter sich einen Servierwagen herzog. Er brachte den Servierwagen nur bis halb über die Türschwelle, so daß er die Tür offenhielt, und dann schaute er in die Morgendämmerung hinaus.
    »Es wird ein herrlicher Tag werden«, sagte er und lächelte uns an. »Hier ist Ihr Frühstück, Fräulein Stratmann. Möchten Sie es vielleicht dort auf dem Schreibtisch haben?«
    »Frühstück?« Miss Stratmann machte einen etwas verwirrten Eindruck. »Es sollte doch erst in einer halben Stunde serviert werden.«
    »Herr von Winterstein hat angeordnet, daß mit dem Frühstück jetzt begonnen werden soll. Und wenn Sie mich fragen, so hat er auch völlig recht damit. Ein Frühstück ist genau das, was die Leute jetzt brauchen.«
    »Ach so.« Miss Stratmann schien nach wie vor verwirrt und schaute sich ratsuchend zu mir um. Dann fragte sie den Mann: »Ist dort draußen alles... alles in Ordnung?«
    »Alles bestens jetzt. Natürlich, nachdem Mr. Brodsky diesen Zusammenbruch hatte, war eine Art Panik aufgekommen, aber jetzt sind alle ganz glücklich und amüsieren sich. Wissen Sie, Herr von Winterstein hat gerade eben im Foyer eine herrliche Rede gehalten über das großartige Erbe dieser Stadt, über all die Dinge, auf die wir stolz sein sollten. Er hat viel von dem erwähnt, was wir in den vergangenen Jahren geleistet haben, und auf die schrecklichen Probleme hingewiesen, mit denen sich andere Städte zu plagen haben, Probleme, über die wir hier uns keinerlei Gedanken machen müssen. Genau das haben wir gebraucht. Schade, daß Sie das nicht mit anhören konnten. Danach hatten wir alle eine viel positivere Einstellung uns selbst und der Stadt gegenüber, und jetzt amüsieren sich alle. Schauen Sie doch, da sind ja einige von den Leuten.« Er deutete auf das Fenster, und tatsächlich konnte man draußen im bleichen Licht einige Gestalten erkennen, die langsam durch das Gras gingen. Vorsichtig trugen sie ihre Teller vor sich und sahen sich nach einer Sitzgelegenheit um.
    »Entschuldigen Sie mich«, sagte ich und stand auf. »Ich muß jetzt zu meinem Auftritt. Ich werde noch zu spät kommen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Miss Stratmann. Für alles. Aber bitte entschuldigen Sie mich jetzt.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, drängte ich mich an dem Servierwagen vorbei auf den Korridor hinaus.

SIEBENUNDDREISSIG
    Fahles Morgenlicht durchdrang inzwischen den Dämmer des Korridors. Ich schaute mich zu der verspiegelten Nische um, an der ich Hoffman zurückgelassen hatte, doch er war gegangen. Ich eilte weiter in Richtung Zuschauerraum, an den Gemälden mit ihrem Goldrahmen vorbei. Ich begegnete einem weiteren Kellner mit einem Servierwagen voller Frühstückssachen, der sich gerade vorbeugte, um an eine Tür zu klopfen, doch ansonsten war der Korridor menschenleer.
    Ich ging schnell weiter und hielt Ausschau nach dem Notausgang, der mich ursprünglich auf diesen Korridor geführt hatte. Inzwischen war ich von dem ganz und gar unwiderstehlichen Drang beseelt, mit meinem Auftritt zu beginnen. Welch große Enttäuschungen ich soeben auch erlitten haben mochte, all dies, so begriff ich, entband mich keineswegs von der Verantwortung all jenen gegenüber, die viele Wochen lang auf den Augenblick gewartet hatten, in dem ich mich an den Flügel setzen würde. Mit anderen Worten, es war meine Pflicht, am heutigen Abend wenigstens eine Vorstellung auf dem für

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