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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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kommen würden. Ich begriff überhaupt nicht, wie ich in dieser Angelegenheit je so zuversichtlich hatte sein können, daß ich erst Hoffman und dann Miss Stratmann so vehement zur Rede gestellt hatte. Ich schluchzte noch eine Weile, dann wurde mir bewußt, daß Miss Stratmann über mich gebeugt stand.
    »Mr. Ryder, Mr. Ryder«, sagte sie immer wieder sanft. Als ich dann meine Tränen unter Kontrolle gebracht hatte, sagte sie in ganz freundlichem Tonfall: »Mr. Ryder. Vielleicht hat Ihnen das überhaupt noch niemand hier erzählt. Aber es gab einmal eine Zeit, recht viele Jahre ist das jetzt schon her, da sind Ihre Eltern hierher in die Stadt gekommen.«
    Ich hörte auf zu schluchzen und schaute zu ihr hoch. Sie lächelte mich an, dann ging sie langsam auf die Fensterscheibe zu und schaute wieder in die Morgendämmerung hinaus.
    »Sie müssen wohl zusammen auf Urlaub gewesen sein«, sagte sie, den Blick hatte sie immer noch in die Ferne gerichtet. »Sie sind mit dem Zug angekommen und blieben zwei oder drei Tage und haben sich die Stadt angesehen. Wie gesagt, es ist schon eine ganze Weile her, und Sie waren noch nicht ganz so berühmt, wie Sie es heute sind. Dennoch waren Sie aber auch kein Unbekannter mehr, und irgend jemand, ein Angestellter im Hotel Ihrer Eltern vielleicht, hat gefragt, ob sie mit Ihnen verwandt seien. Wissen Sie, wegen des Namens und weil sie doch beide Engländer waren. So kam dann heraus, daß diese beiden netten älteren Engländer Ihre Eltern waren. Es hat wohl nicht ganz die Aufregung gegeben, zu der es heute gekommen wäre, aber man hat sich wirklich sehr gut um sie gekümmert. Und dann im Lauf der Jahre, als Sie immer berühmter wurden, haben sich die Leute daran erinnert, an das eine Mal, als Ihre Eltern hier gewesen sind. Ich selbst kann mich an ihren Besuch nicht so genau erinnern, weil ich ja damals noch so klein war. Aber ich weiß noch, daß die Leute darüber geredet haben.«
    Voller Interesse schaute ich auf ihren Rücken. »Miss Stratmann, das erzählen Sie mir doch nicht alles, nur um mich zu trösten, oder?«
    »Nein, nein, keineswegs. Alle können bestätigen, was ich sage. Wie gesagt, ich war damals ja noch ein Kind, aber viele Leute hier könnten Ihnen alles darüber erzählen. Es ist übrigens auch alles ausgezeichnet dokumentiert.«
    »Aber hat es so ausgesehen, als wären sie glücklich gewesen? Haben sie miteinander gelacht und ihren Urlaub genossen?«
    »Ganz bestimmt haben sie das, Mr. Ryder. Nach allem, was man so hört, haben sie sich sehr gut amüsiert. Alle erinnern sich an ein überaus freundliches Paar. Sehr nett und rücksichtsvoll sind sie miteinander umgegangen.«
    »Aber... aber was ich gern wissen möchte, Miss Stratmann, ist, hat man sich denn auch gut um sie gekümmert? Das möchte ich gern von Ihnen wissen...«
    »Natürlich hat man sich gut um sie gekümmert. Und sie haben sich sehr gut amüsiert. Die ganze Zeit über waren sie sehr glücklich.«
    »Woher wollen Sie das denn wissen? Sie haben doch selbst gesagt, daß Sie damals noch ein kleines Kind waren.«
    »Was ich Ihnen gerade erzählt habe, kann Ihnen jeder bestätigen.«
    »Wenn auch nur etwas von dem, was Sie mir hier erzählen, der Wahrheit entspricht, wie kommt es dann, daß mich während der ganzen Zeit, die ich jetzt hier gewesen bin, noch niemand darauf angesprochen hat?«
    Miss Stratmann zögerte einen Moment und drehte sich dann wieder zu den Bäumen und dem Sonnenaufgang um. »Das weiß ich nicht«, erwiderte sie leise und schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, wieso das so ist. Aber Sie haben recht. Die Leute reden nicht mehr so viel darüber, wie man erwarten könnte. Aber es stimmt, das können Sie mir glauben. Ich kann mich von meiner Kindheit her noch sehr gut daran erinnern.«
    Von draußen war Vogelgezwitscher zu hören. Miss Stratmann schaute immer noch zu den Bäumen in der Ferne, wahrscheinlich gingen ihr weitere Kindheitserinnerungen durch den Kopf. Ich beobachtete sie eine Weile, dann sagte ich:
    »Sie sagen, man hat sie gut behandelt hier?«
    »O ja«, entgegnete Miss Stratmann beinahe im Flüsterton, den Blick hatte sie immer noch in die Ferne gerichtet. »Ich bin ganz sicher, daß man sie sehr gut behandelt hat. Es muß im Frühling gewesen sein, und der Frühling ist immer so wunderschön hier. Und die Altstadt, Sie haben ja inzwischen selbst gesehen, wie zauberhaft sie ist. Die Leute haben sie bestimmt auf Dinge um sie herum aufmerksam gemacht, ganz normale Leute,

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