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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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daß Sie meinen Erwartungen ganz und gar nicht entsprechen.«
    »Ich weiß wirklich nicht, Mr. Ryder, welchem Umstand ich diese Schimpfkanonade verdanke. Gibt es irgend etwas Spezielles, mit dem Sie unzufrieden sind?«
    »Ich bin mit allem unzufrieden, Miss Stratmann. Man hat mir wichtige Informationen vorenthalten, wenn ich sie brauchte. Man hat mir nichts von Änderungen mitgeteilt, die in letzter Minute an meinem Terminplan vorgenommen wurden. Man hat mir in kritischen Phasen nicht beigestanden und geholfen. Als Folge davon habe ich mich auf meine Aufgaben nicht in der Weise vorbereiten können, wie ich das gern getan hätte. Und dennoch und trotz alledem habe ich vor, sehr bald schon auf die Bühne zu gehen, wo ich versuchen will, etwas von dem zu retten, was sich allmählich für Sie alle als katastrophaler Abend erweist. Doch bevor ich das tue, habe ich noch eine ganz schlichte Frage an Sie. Wo sind meine Eltern? Sie sind vor einer ganzen Weile mit einer Pferdekutsche eingetroffen. Aber als ich vorhin den Zuschauerraum absuchte, habe ich sie nirgendwo entdecken können. Man hat sie weder in eine der Logen noch auf die Ehrenplätze in der ersten Reihe gesetzt. Also frage ich Sie noch einmal, Miss Stratmann, wo sind sie? Weshalb hat man sich nicht so aufmerksam um sie gekümmert, wie Sie das versprochen hatten?«
    Miss Stratmann betrachtete mich aufmerksam in dem Morgendämmerungslicht, dann seufzte sie.
    »Also, Mr. Ryder, darüber hatte ich mit Ihnen schon seit einer geraumen Weile sprechen wollen. Wir waren alle hocherfreut, als Sie uns vor einigen Monaten mitgeteilt hatten, daß Ihre Eltern die Absicht hätten, in unsere Stadt zu kommen. Wir waren alle ganz entzückt. Aber ich muß Sie daran erinnern, Mr. Ryder, daß wir die Information, derzufolge Ihre Eltern in unsere Stadt kommen wollten, von Ihnen und wirklich nur von Ihnen allein haben. Während der vergangenen drei Tage, und ganz besonders heute, habe ich nun wirklich alles getan, um etwas über den Verbleib Ihrer Eltern in Erfahrung zu bringen. Ich habe wiederholt mit dem Flughafen, mit dem Bahnhof, mit den Busgesellschaften, mit jedem Hotel hier in der Stadt telefoniert, aber ich habe keine Spur von ihnen entdecken können. Niemand hat etwas von ihnen gehört, niemand hat sie gesehen. Also, Mr. Ryder, jetzt frage ich Sie. Sind Sie sicher, daß sie hierher in die Stadt kommen?«
    Während sie noch geredet hatte, waren mir Zweifel gekommen, und plötzlich spürte ich, wie etwas in mir allmählich zerbrach. Um mein Unbehagen zu verbergen, drehte ich mich um und schaute in die Morgendämmerung hinaus.
    »Also«, sagte ich schließlich, »ich war mir wirklich ganz sicher, daß sie diesmal kommen würden.«
    »Sie waren sich ganz sicher.« Miss Stratmann, deren Berufsehre ich ganz gehörig gekränkt haben mußte, starrte mich inzwischen vorwurfsvoll an. »Begreifen Sie überhaupt, Mr. Ryder, welch große Mühe sich hier alle in Erwartung der Ankunft Ihrer Eltern gegeben haben? Die medizinischen Vorkehrungen, die Gastfreundschaft, die Pferdekutsche? Eine Gruppe von Damen hier aus dem Ort hat viele Wochen damit zugebracht, ein Programm zusammenzustellen, um Ihre Eltern während ihres Aufenthaltes hier zu unterhalten. Und Sie sind sich ganz sicher gewesen, daß sie kommen, sagen Sie.«
    »Natürlich«, sagte ich und lachte auf, »hätte ich den Leuten nie im Leben all diese Arbeit und Mühe zugemutet, wenn ich weniger sicher gewesen wäre. Aber Tatsache ist« – noch einmal lachte ich unwillkürlich auf -, »Tatsache ist, daß ich mir sicher war, daß sie diesmal, endlich, kommen würden. Es ist doch nicht absurd von mir gewesen, anzunehmen, daß sie diesmal kommen würden? Schließlich befinde ich mich auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Wie lange kann ich denn schon noch damit rechnen, so herumreisen zu können? Selbstverständlich tut es mir leid, sollte ich jemandem unnötig Unannehmlichkeiten bereitet haben, aber das ist doch sicher nicht der Fall. Sie müssen hier irgendwo sein. Außerdem habe ich sie ja gehört. Als ich den Wagen in diesem Wald angehalten habe, war deutlich zu hören, wie sie mit ihrer Pferdekutsche angekommen sind. Ich habe sie gehört, sie müssen hier sein, bestimmt ist es nicht absurd anzunehmen...«
    Ich sank auf einen Stuhl, der ganz in meiner Nähe stand, und mir wurde bewußt, daß ich angefangen hatte zu schluchzen. Dabei fiel mir auf einmal wieder ein, wie vage die Möglichkeit gewesen war, daß meine Eltern in die Stadt

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