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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Sie sollten wissen, daß Mr. Brodsky schon recht lange bei uns lebt, und in all den Jahren hat nie jemand gehört, daß er über Musik gesprochen, geschweige denn Musik gemacht hätte. Gut, wir haben alle irgendwie gewußt, daß er in seiner alten Heimat früher einmal Dirigent gewesen war. Aber sehen Sie, diese Seite haben wir nie an ihm bemerkt, und deshalb haben wir auch nie an ihn als einen Musiker gedacht. Um ganz ehrlich zu sein, bis vor kurzem haben alle hier Mr. Brodsky nur zur Kenntnis genommen, wenn er sich sinnlos betrunken hatte und dann schreiend durch die Stadt schwankte. Die übrige Zeit war er für alle nur dieser Einsiedler, der mit seinem Hund in der Nähe des Nördlichen Zubringers wohnte. Allerdings stimmt das auch nicht ganz, denn man hat ihn recht regelmäßig in der Bücherei gesehen. Zwei- oder dreimal die Woche ist er vormittags immer in die Bücherei gekommen, hat sich auf seinen üblichen Platz bei den Fenstern gesetzt und seinen Hund am Tischbein festgebunden. Es ist gegen die Vorschriften, Hunde in die Bücherei mitzubringen, aber die Bibliothekare haben vor langer Zeit schon beschlossen, daß es am einfachsten wäre, ihn den Hund mitbringen zu lassen. Viel einfacher, als einen Streit mit Mr. Brodsky anzufangen. Da hat man ihn dann manchmal gesehen, der Hund ihm zu Füßen, und da hat er seinen Stapel mit Büchern durchgeblättert – immer dieselben bombastisch wirkenden Geschichtswerke. Und wenn jemand im Raum auch nur die allerkürzeste getuschelte Unterhaltung anfing oder auch nur jemanden begrüßte, stand er auf und brüllte den Schuldigen an. Theoretisch war er natürlich im Recht. Aber was die Ruhe in unserer Bücherei angeht, sind wir nie sehr streng gewesen. Die Leute reden schließlich immer gern ein bißchen, wenn sie sich treffen, das ist an allen öffentlichen Orten so. Und wenn Sie bedenken, daß Mr. Brodsky selbst durch das Mitbringen des Hundes gegen die Vorschriften verstoßen hatte, ist es nicht weiter verwunderlich, daß viele meinten, sein Benehmen sei nicht sehr vernünftig. Doch dann, an manchen Vormittagen, war es zuweilen so, daß eine ganz besondere Stimmung über ihn kam. Da saß er dann an seinem Tisch und las, und plötzlich kam dann dieser verlorene Blick über ihn. Man sah ihn dasitzen und in die Luft starren, und manchmal kamen ihm sogar die Tränen. Immer, wenn das geschah, wußten die Leute, sie konnten ungestraft reden. Meist versuchte erst ein einzelner sein Glück. Und wenn Mr. Brodsky dann nicht reagierte, fingen bald im ganzen Raum alle an zu reden. Zuweilen – die Menschen sind ja so schlecht – war es in der Bücherei viel lauter als an den Tagen, an denen Mr. Brodsky nicht da war. Ich weiß noch, ich war eines Vormittags da, um ein Buch zurückzugeben, und es klang da wie auf einem Bahnhof. Ich mußte regelrecht schreien, um mich an der Rückgabe verständlich zu machen. Und da saß Mr. Brodsky, ganz still mitten im Trubel, in seiner eigenen Welt. Ganz ehrlich, das war ein trauriger Anblick. Das morgendliche Licht ließ ihn sehr hinfällig wirken. Ein Tropfen hing ihm an der Nasenspitze, seine Augen schienen ganz entrückt, und die Seite, die er gerade las, hatte er völlig vergessen. Und ich fand, daß es recht grausam war, wie die Stimmung um ihn herum sich verändert hatte. Es war, als würden sie ihn irgendwie ausnutzen, wenn ich auch nicht genau weiß, in welcher Beziehung. Aber sehen Sie, an einem anderen Tag wäre er durchaus in der Lage gewesen, sie alle in nur einem einzigen Augenblick zum Schweigen zu bringen. Also, Mr. Ryder, ich will damit sagen, daß wir Mr. Brodsky lange Jahre nur so gesehen haben. Es ist wohl einfach zuviel verlangt, daß die Leute ihre Meinung über ihn in einer solch relativ kurzen Zeit vollständig ändern. Beträchtliche Fortschritte wurden erzielt, aber wie Sie ja gerade gesehen haben...« Wieder schien Verbitterung ihn zu überwältigen. »Aber die da sollten es doch wohl besser wissen«, murmelte er vor sich hin.
    Bei einer Kreuzung blieben wir stehen. Der Nebel war noch viel dichter geworden, und ich hatte die Orientierung verloren. Pedersen schaute sich um, ging dann weiter und führte mich durch eine schmale Straße, auf der lange Reihen von Wagen auf den Bürgersteigen parkten.
    »Ich bringe Sie noch in Ihr Hotel, Mr. Ryder. Ob ich nun hier oder anderswo entlang nach Hause gehe, spielt wirklich keine Rolle. Ich hoffe, Sie sind mit dem Hotel zufrieden?«
    »O ja, ein ausgezeichnetes Hotel.«
    »Ein

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