Die Ungetroesteten
schmerzlich vermißt hatten. Plötzlich schien es unverständlicher als je zuvor, daß wir jemanden wie Herrn Christoff hatten preisen können. Hier waren wir nun und hörten endlich wieder richtige Musik. Das Werk eines Dirigenten, der nicht nur unendlich begabt war, sondern der dieselben Werte schätzte wie wir . Dann war die Musik zu Ende, wir standen auf und streckten die Beine – wir hatten weit über drei Stunden zugehört -, und dann, tja, der Gedanke an Mr. Brodsky – Mr. Brodsky! – erschien uns genauso absurd wie vorher. Die Aufnahmen seien sehr alt, argumentierten wir. Und Mr. Brodsky habe aus Gründen, über die er selbst wohl am besten Bescheid wußte, die Musik schon vor langer Zeit aufgegeben. Und außerdem seien da ja noch seine... seine Probleme. Man könne wohl kaum sagen, er sei noch derselbe Mensch wie früher. Bald schüttelten wir alle den Kopf. Aber dann ergriff die Gräfin wieder das Wort. Wir würden uns einer Krise nähern. Wir müßten offen für alles bleiben. Wir müßten Mr. Brodsky aufsuchen, mit ihm reden, uns des derzeitigen Zustands seiner Kräfte vergewissern. Sicher mußte keiner von uns an die Dringlichkeit der Lage erinnert werden. Wir alle kannten Dutzende trauriger Fälle. Konnten berichten von Leben, die von der Einsamkeit zerstört worden waren. Von Familien, die alle Hoffnung aufgegeben hatten, je wieder das Glück zu finden, das sie einst für selbstverständlich gehalten hatten. Hier nun räusperte sich plötzlich Herr Hoffman, der Direktor unseres Hotels, und erklärte, er wolle sich um Mr. Brodsky kümmern. Er wolle sich höchstpersönlich – er sagte all dies sehr feierlich, stand dazu sogar auf -, er wolle sich höchstpersönlich darum kümmern, die Lage zu beurteilen, und wenn für Mr. Brodsky überhaupt Hoffnung auf Genesung bestünde, dann wolle er, Herr Hoffman, sich der Sache annehmen. Wenn wir ihm diese Aufgabe anvertrauen wollten, dann würde er uns hoch und heilig versprechen, die Gemeinde nicht zu enttäuschen. Das ist jetzt, wie ich schon sagte, etwas über zwei Jahre her. Seitdem haben wir höchst verblüfft beobachtet, mit welcher Hingabe sich Herr Hoffman der Erfüllung seines Versprechens verschreibt. Die Fortschritte sind, wenn auch nicht immer ganz gradlinig, so doch insgesamt beachtlich gewesen. Und jetzt ist Mr. Brodsky, nun ja, man hat ihm zum gegenwärtigen Stadium verholfen. Und zwar so sehr, daß wir meinen, mit dem entscheidenden Schritt nicht länger warten zu müssen. Schließlich können wir nicht viel mehr tun, als Mr. Brodsky in einem günstigeren Licht zu präsentieren. Von einem gewissen Zeitpunkt an müssen die Leute dieser Stadt ihren eigenen Augen und Ohren trauen und dann ein Urteil fallen. Nun ja, bisher spricht alles dafür, daß wir in unserem Ehrgeiz nicht zu hoch gegriffen haben. Mr. Brodsky hat regelmäßig geprobt, und nach allem, was man so hört, hat er die Achtung des Orchesters voll und ganz gewonnen. Es mag sehr, sehr viele Jahre her sein, seit er das letzte Mal öffentlich aufgetreten ist, aber es scheint, daß nur wenig verlorengegangen ist. Diese Leidenschaft, diese wundervolle Phantasie, die wir an jenem Abend im Salon der Gräfin erlebt haben, hat die ganze Zeit irgendwo tief innen verborgen gewartet und erwacht jetzt nach und nach wieder zum Leben. Ja, wir sind voller Zuversicht, daß er uns am Donnerstag abend alle Ehre machen wird. Bis dahin werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den Erfolg des Abends sicherzustellen. Das Orchester der Stuttgarter Nagel-Stiftung ist, wie Sie ja wissen, wenn nicht höchstrangig, so doch hochangesehen. Seine Dienste sind nicht gerade billig zu haben. Dennoch hat es kaum eine Gegenstimme gegeben, als es darum ging, dieses Orchester für diese wichtigste aller Gelegenheiten zu engagieren, auch über den betreffenden Zeitraum kam es zur Einigung. Zunächst war eine zweiwöchige Probenzeit vorgesehen, doch schließlich haben wir uns mit voller Unterstützung des Finanzkomitees auf drei Wochen geeinigt. Drei Wochen Unterbringung und Gastfreundschaft für ein Tournee-Orchester, und dann noch all die Honorare. Sie sehen, es handelt sich nicht gerade um ein bescheidenes Unterfangen. Aber nicht einmal im Flüsterton hat sich Widerspruch geregt. Alle Stadträte begreifen inzwischen die Bedeutung des Donnerstagabend. Jeder versteht, daß man Mr. Brodsky jede nur mögliche Chance geben muß. Und trotz allem« – Pedersen seufzte plötzlich schwer – »und trotz allem, wie Sie ja
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