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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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hat, beiseite gelegt, aber hat weiterhin auf den Teppich vor sich geschaut. Dann kam ein Lächeln über sein Gesicht, und er sagte etwas wie: ›Ach ja, Dahlia‹, und ein paar Sekunden lang sah er ganz glücklich aus. Er schaute nicht hoch, er kauerte immer noch auf Händen und Knien, aber er sah ganz glücklich aus. Dann schloß er die Augen und fing an, die ersten Takte des Adagio zu summen, dort auf dem Boden fing er an zu summen und den Kopf im Takt zu bewegen. Er schien so glücklich und gelassen, Mr. Ryder, daß ich mir in dem Augenblick schon gratulierte. Dann öffnete er die Augen, lächelte verträumt zu mir hoch und sagte: ›Ja, ein wunderschönes Stück. Ich habe nie verstehen können, wieso deine Mutter es so verabscheut. ‹ Wie ich gerade schon zu Miss Collins sagte, dachte ich zuerst, ich hätte mich verhört. Aber dann sagte er es noch einmal. ›Deine Mutter verabscheut es so. Tja, wie du ja weißt, hat sie inzwischen nur Abscheu für La Roches Spätwerk übrig. Ich darf nirgendwo im Haus seine Platten spielen, nicht einmal, wenn ich dazu die Kopfhörer aufsetze.‹ Dann muß er gemerkt haben, wie verblüfft und verstört ich war. Weil er – und das ist typisch für Vater! – sofort alles getan hat, damit ich mich wieder besser fühle. ›Ich hätte dich schon längst fragen sollen‹, sagte er wieder und immer wieder. ›Das ist alles meine Schuld.‹ Dann schlug er sich plötzlich vor die Stirn, als sei ihm gerade etwas eingefallen, und er sagte: ›Stimmt schon, Stephan, ich habe euch beide enttäuscht. Ich habe damals gedacht, ich tue das Richtige, wenn ich mich nicht einmische, aber ich sehe jetzt, daß ich euch beide enttäuscht habe.‹ Und als ich ihn fragte, was er damit meinte, erklärte er mir, wie sehr sich Mutter die ganze Zeit schon darauf gefreut hatte, mich Kazans Glass Passions spielen zu hören. Offensichtlich hatte sie Vater gegenüber schon vor einer ganzen Weile durchblicken lassen, daß sie genau das hören wollte, und Mutter mußte, na ja, sie mußte doch annehmen, daß Vater das in die Wege leiten würde. Aber wissen Sie, Vater hat auch versucht, sich in mich hineinzuversetzen. In solchen Dingen ist er wirklich sehr feinfühlig. Ihm war bewußt, daß ein Musiker – sogar ein solcher Laie wie ich – bei einem solch wichtigen Auftritt gern seine eigenen Entscheidungen treffen würde. Deshalb hat er nichts zu mir gesagt, er wollte Mutter alles erklären, sobald er die Gelegenheit dazu hätte. Aber dann kam natürlich – also ich glaube, ich sollte Ihnen das wohl etwas ausführlicher erzählen, Mr. Ryder. Wissen Sie, wenn ich sage, Mutter hat das mit Kazan Vater gegenüber durchblicken lassen, meine ich damit nicht, daß sie es ihm tatsächlich gesagt hat. Es ist nicht ganz einfach, das einem Außenstehenden zu erklären. Es funktioniert so, daß Mutter es Vater gegenüber irgendwie, wissen Sie, irgendwie vage durchblicken lassen würde, ohne das Thema je direkt zur Sprache zu bringen. Sie macht das durch Andeutungen, die für ihn ganz eindeutig sind. Ich weiß nicht genau, was sie diesmal gemacht hat. Vielleicht ist er nach Hause gekommen, und genau in dem Moment hat sie sich Glass Passions auf der Stereoanlage angehört. Na ja, da sie die Stereoanlage nur sehr selten benutzt, wäre das ein recht deutliches Zeichen. Oder vielleicht ist Vater nach seinem Bad zu Bett gegangen, und da hat sie dann gerade im Bett ein Buch über Kazan gelesen, oder so ungefähr, das ist eben einfach die Art, wie die Dinge zwischen den beiden laufen. Na ja, auf jeden Fall sehen Sie, daß Vater in der Situation nicht einfach plötzlich sagen konnte: ›Nein, Stephan muß seine eigene Entscheidung treffen.‹ Vater hat abgewartet und versucht, eine geeignete Möglichkeit zu finden, seine Reaktion zu übermitteln. Und natürlich konnte er nicht wissen, daß ich ausgerechnet La Roches Dahlia einstudierte. Gott, was bin ich doch für ein Dummkopf gewesen! Ich hatte ja keine Ahnung, daß Mutter das Stück so absolut nicht leiden kann! Nun ja, er sagte mir, wie die Dinge ständen, und als ich ihn fragte, was er für die beste Vorgehensweise hielt, hat er darüber nachgedacht und gesagt, ich solle bei dem bleiben, was ich einstudiert hätte, es sei zu spät, jetzt noch etwas zu ändern. ›Dir würde Mutter keine Vorwürfe machen‹, sagte er immer wieder. ›Dir würde sie auf keinen Fall Vorwürfe machen. Mir wird sie Vorwürfe machen, und das ganz zu Recht.‹ Armer Vater, er hat sich solche Mühe

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