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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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geblieben. In der Zwischenzeit war er, hauptsächlich aufgrund seiner Bereitschaft, etliche untergeordnete Aufgaben im Zusammenhang mit der Organisation eines kulturellen Ereignisses zu übernehmen, ein wohlgelittenes, wenn auch ein wenig gönnerhaft behandeltes Mitglied der Künstlerkreise der Stadt geworden.
    Die Gäste hatten nur wenig Zeit gehabt, ihre Verblüffung zu überwinden, als Jakob Kanitz auch schon – vielleicht auch in dem Bewußtsein, seine Nerven würden dem nicht lange standhalten – zu sprechen angefangen hatte.
    »Andere Städte! Und ich meine nicht unbedingt Paris! Oder Stuttgart! Ich meine kleinere Städte, nicht größer als wir, andere Städte. Laßt sie ihre angesehensten Bürger zusammenrufen und stellt sie dann vor eine Krise wie die unserige, wie würden sie sich dann verhalten? Sie wären ruhig, zuversichtlich. Solche Leute würden wissen, was zu tun ist, wie man sich verhalten muß. Was ich sagen will, was ich uns allen hier sagen will, wir sind die angesehenen Leute dieser Stadt. Es ist nicht zu viel für uns. Gemeinsam können wir diese Krise durchstehen. Würden sie sich in Stuttgart streiten?! Noch besteht kein Grund zur Panik. Keine Notwendigkeit aufzugeben, untereinander zu streiten anzufangen. Na schön, der Hund, das ist ein Problem, aber es ist nicht das Ende, das hat noch nichts zu bedeuten. In welcher Verfassung Mr. Brodsky in diesem Augenblick auch immer sein mag, wir können ihm wieder auf die Beine helfen. Das können wir wirklich, vorausgesetzt wir spielen heute abend alle unsere Rolle. Ich bin sicher, daß wir es schaffen, wir müssen es schaffen. Wir müssen ihm wieder auf die Beine helfen. Denn wenn wir das nicht tun, wenn wir nicht alle an einem Strang ziehen und das hier heute abend zu einem guten Ende bringen, dann bleibt uns nichts anderes mehr als Elend! Ja, tiefstes, einsamstes Elend! Es gibt niemanden sonst, an den wir uns wenden könnten, da ist nur Mr. Brodsky, und sonst niemand im Augenblick. Wir müssen Ruhe bewahren. Was machen wir denn hier, wir streiten uns? Würden sie sich in Stuttgart streiten? Wir müssen jetzt ganz vernünftig überlegen. An seiner Stelle, wie würden wir uns da fühlen? Wir müssen ihm zeigen, daß wir alle mit ihm trauern, daß die ganze Stadt seinen Kummer teilt. Aber dann, Freunde, denkt darüber nach, müssen wir ihn aufheitern. O ja! Wir können nicht den ganzen Abend Trübsal blasen, ihn wegschicken in der Überzeugung, daß ihm nichts mehr bleibt, denn dann könnte er womöglich wieder... Nein, nein! Das richtige Maß! Wir müssen auch fröhlich sein, ihm zeigen, daß es da noch mehr im Leben gibt, daß wir alle zu ihm aufschauen, uns alle auf ihn verlassen. Ja, wir müssen alles richtig machen in diesen kommenden Stunden. Er wird jetzt vielleicht schon auf dem Weg hierher sein, Gott weiß, in was für einer Verfassung. Diese kommenden Stunden, die werden entscheidend sein, entscheidend. Wir müssen unbedingt alles richtig machen. Andernfalls steht uns nur Elend bevor. Wir müssen... wir müssen...«
    Inzwischen war Jakob Kanitz ganz und gar in heillose Verwirrung versunken. Er war noch einige Sekunden lang auf dem Podium stehengeblieben, ohne zu sprechen, und immense Verlegenheit umwogte ihn beständig. Ein Rest seiner vorherigen Gefühlsaufwallung hatte ihn veranlaßt, den Versammelten noch einen letzten Blick zuzuwerfen, dann hatte er sich schüchtern umgedreht und war vom Podium gestiegen.
    Doch dieser unbeholfene Appell hatte eine sofortige Wirkung gehabt. Noch bevor Jakob Kanitz seine Ansprache beendet hatte, hatte ein leises, zustimmendes Gemurmel eingesetzt, und so mancher hatte vorwurfsvoll gegen die Schulter des jungen Stadtrats gestoßen – der zu diesem Zeitpunkt verschämt mit den Füßen gescharrt hatte. Jakob Kanitzens Abgang vom Schauplatz des Geschehens waren einige Momente betretenen Schweigens gefolgt. Dann war allmählich überall im Raum wieder das Gespräch in Gang gekommen, wobei sich alle in ernstem, doch ruhigem Ton darüber unterhalten hatten, was bei Brodskys Ankunft zu tun sei. Bald schon war es zu einer Übereinstimmung dahingehend gekommen, daß Jakob Kanitz mehr oder weniger recht hatte. Ihre Aufgabe sei es nun, das richtige Maß zwischen Betrübnis und Jovialität zu finden. Die Stimmung müßte zu jeder Zeit von jedem Anwesenden sorgsam überwacht werden. Ein Gefühl der Entschlossenheit war durch den Raum gegangen, und dann hatten die Leute bald begonnen, sich mehr und mehr zu entspannen,

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