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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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lediglich in der Verwirrung des Alkoholrausches, ist niemals festgestellt worden. Im Gefolge dieser Gerüchte waren dann bald verzweifelte Bemerkungen laut geworden.
    »Dieser Hund war sein ein und alles. Darüber wird der Mann nie hinwegkommen. Wir sollten uns damit abfinden, daß wir wieder ganz bei Null anfangen müssen.«
    »Wir müssen den Donnerstagabend absagen. Sofort absagen. Jetzt kann es nur noch eine Katastrophe werden. Wenn wir so weitermachen wie geplant, werden die Leute dieser Stadt uns nie im Leben eine zweite Chance geben.«
    »Von Anfang an war das Risiko mit diesem Menschen zu groß. So weit hätten wir es nie kommen lassen dürfen. Aber was sollen wir jetzt machen? Wir sind erledigt.«
    Und obwohl dann sogar die Gräfin und ihre Mitarbeiter versucht hatten, den Abend wieder unter Kontrolle zu bringen, war irgendwo in der Mitte des Raumes ein Schwall von Geschrei losgebrochen.
    Viele waren dorthin gelaufen, wo der Zwischenfall sich ereignete, einige waren in Panik zurückgewichen. Folgendes hatte sich zugetragen: Ein junger Stadtrat hatte eine rundliche, glatzköpfige Gestalt zu Boden geworfen, die jedermann nur Augenblicke später als den Tierarzt Keller erkannte. Der junge Stadtrat war weggezogen worden, hatte sich aber so hartnäckig in Kellers Revers verkrallt, daß der Tierarzt mit ihm hochgezogen wurde.
    »Ich habe getan, was ich konnte!« hatte Keller geschrien, der ganz rot im Gesicht war. »Ich habe getan, was ich konnte! Was hätte ich denn sonst noch machen können? Vor zwei Tagen war das Tier noch ganz in Ordnung!«
    »Lügner!« hatte der junge Stadtrat gebrüllt und einen weiteren Angriff versucht. Wieder war er weggezogen worden, doch inzwischen hatten einige andere erkannt, daß man einen idealen Sündenbock gefunden hatte, und waren dazu übergegangen, Keller ebenfalls anzuschreien. Einen Moment lang waren von allen Seiten Anschuldigungen auf den Tierarzt niedergeprasselt, man hatte ihm Nachlässigkeit vorgeworfen und Gefährdung der Zukunft einer ganzen Gemeinde. Und auf einmal hatte eine Stimme gerufen: »Und was ist mit den kleinen Kätzchen der Breuers? Sie haben die ganze Zeit nur Bridge gespielt, Sie haben diese kleinen Kätzchen eines nach dem anderen sterben lassen...«
    »Ich spiele nur einmal in der Woche Bridge, und selbst dann...«, hatte der Tierarzt angefangen, sich mit heiserer Stimme zu verteidigen, doch sofort hatten ihn noch mehr Stimmen niedergeschrien. Plötzlich hatte es den Anschein gehabt, als hege jeder in dem Raum wegen eines geliebten Haustieres schon lange einen tiefen Groll gegen den Tierarzt. Dann hatte jemand gerufen, Keller schulde ihm Geld, ein anderer, daß Keller eine vor sechs Jahren ausgeliehene Gartenharke nicht zurückgegeben habe. Bald hatte die Stimmung gegen den Tierarzt ein solches Ausmaß erreicht, daß es nur ganz natürlich erschienen war, daß diejenigen, die den jungen Stadtrat festhielten, ihren Griff gelockert hatten. Und als der Stadtrat noch einmal auf Keller losging, hatte es den Eindruck, daß er es diesmal im Namen der großen Mehrheit aller Anwesenden tat. Es hatte den Anschein gehabt, als drohte die Situation außerordentlich unangenehm zu werden, als eine durch den ganzen Raum dröhnende Stimme schließlich alle wieder zur Räson gebracht hatte.
    Daß sich über den Raum tatsächlich so schnell Stille gesenkt hatte, war wohl eher der Überraschung angesichts der Identität des Sprechers zu verdanken als einer natürlichen Autorität, über die er womöglich verfügte. Denn die Gestalt, der sich alle zugewandt hatten und die von dem Podium auf die Anwesenden herabschaute, war die des Jakob Kanitz, eines Mannes, der in der Stadt vor allem seiner Schüchternheit wegen bekannt war. Jakob Kanitz war jetzt Ende Vierzig, und solange die Leute zurückdenken konnten, hatte er immer nur dieselbe langweilige Angestelltentätigkeit im Rathaus ausgeübt. Nur höchst selten hatte man ihn eine eigene Meinung äußern, noch seltener jemandem widersprechen oder mit jemandem streiten hören. Er hatte keine engen Freunde, und vor einigen Jahren war er aus dem kleinen Häuschen ausgezogen, das er mit Frau und drei kleinen Kindern bewohnt hatte, und hatte sich ein winziges Zimmerchen unter dem Dach ein Stück weiter weg auf derselben Straße gemietet. Wann immer jemand das Thema zur Sprache brachte, hatte er angedeutet, daß er bald wieder zu seiner Familie ziehen werde, doch die Jahre waren vorübergegangen, und das Arrangement war unverändert

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