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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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einer Wand stehengelassen hatte, und es schien mir, daß ein neuer Beobachtungsposten mich besser in die Lage versetzen würde, die herrschende Stimmung einzuschätzen und mich für die Art Rede entscheiden zu können, die ich beim Abendessen halten sollte. Also ging ich hinüber, setzte mich und saß einige Minuten lang da und beobachtete den Raum.
    Noch immer lachten die Gäste und unterhielten sich, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß die unterschwellige Anspannung sich verstärkt hatte. In Anbetracht dessen und in Anbetracht der Tatsache, daß ein anderer ausdrücklich über den Hund sprechen würde, hielt ich es für klug, meine Rede so heiter zu gestalten, wie es gerade eben noch tragbar war. Zu dem Zweck, so meinte ich, sei es wohl am besten, einige amüsante Anekdoten zu erzählen, die sich hinter den Kulissen zugetragen hatten und die eine Reihe von Mißgeschicken betrafen, die sich während meiner letzten Italien-Tournee ereignet hatten. Ich hatte diese Geschichten in der Öffentlichkeit oft genug erzählt, um mir ihrer Fähigkeit, Spannungen zu lösen, ganz sicher zu sein, und war überzeugt, man würde sie unter den gegebenen Umständen sehr zu schätzen wissen.
    Ich probierte still für mich gerade einige mögliche Anfangszeilen aus, als ich merkte, daß sich die Menge beträchtlich gelichtet hatte. Erst da wurde mir bewußt, daß die Leute auf dem Weg in den Speisesaal waren, und so stand ich auf.
    Einige lächelten mir vage zu, als ich mich der Prozession zum Diner anschloß, aber niemand sprach mit mir. Das machte mir nicht wirklich etwas aus, denn im Geiste versuchte ich immer noch, einen wirklich fesselnden Eröffnungssatz zu finden. Während ich mich der Tür zum Speisesaal näherte, schwankte ich zwischen zwei Möglichkeiten. Die erste lautete: »Im Laufe der Jahre hat es sich ergeben, daß mein Name immer wieder im Zusammenhang mit gewissen guten Eigenschaften genannt wird. Peinlich genaue Liebe zum Detail. Äußerste Präzision beim Auftritt. Strenge Kontrolle über alle Vorgänge.« Dieser gespielt hochtrabende Auftakt könnte dann unterlaufen werden durch die vergnüglichen Schilderungen dessen, was sich in Rom zugetragen hatte. Die Alternative bestand darin, von Anfang an einen bedeutend possenhafteren Ton anzuschlagen: »Herunterfallende Vorhangschienen. Vergiftete Nagetiere. Partituren voller Druckfehler. Kaum einer unter Ihnen wird meinen Namen wohl mühelos mit derartigen Vorkommnissen in Verbindung bringen.« Beide Eröffnungen hatten ihre Vor- und Nachteile, und schließlich entschied ich mich dafür, eine endgültige Wahl erst dann zu treffen, wenn ich ein besseres Gefühl für die Stimmung beim Diner hatte.
    Ich betrat den Speisesaal, und überall um mich herum unterhielt man sich aufgeregt. Sofort überwältigte mich die Weitläufigkeit des Saals. Selbst bei der Zahl der heute Anwesenden – weit über einhundert – verstand ich, wieso es nötig gewesen war, nur einen Teil des Saals zu erleuchten. Eine großzügige Anzahl runder Tische war mit weißen Tüchern und mit Tafelsilber gedeckt, aber es schien mindestens noch einmal soviel Tische zu geben, die nicht eingedeckt waren und an denen keine Stühle standen und die sich in langen Reihen in dem Dunkel weit hinten im Saal verloren. Viele Gäste hatten bereits ihre Plätze eingenommen, und das allgemeine Bild – die glitzernden Juwelen der Damen, die steifen, weißen Jacken der Kellner, als Hintergrund die schwarzen Smokings, und alles umrahmt von der Dunkelheit – war recht beeindruckend. Ich beobachtete die Szenerie von der Türschwelle her und nutzte die Gelegenheit, meinen Bademantel glattzuziehen, als die Gräfin an meiner Seite erschien. Sie nahm mich beim Arm und führte mich, wie sie das auch vorher schon getan hatte, während sie zu mir sagte:
    »Wir haben an diesem Tisch dort drüben einen Platz für Sie vorgesehen, Mr. Ryder, dort fallen Sie nicht so sehr auf. Wir wollen doch nicht, daß die Leute Sie entdecken, dann wäre ja die Überraschung verdorben! Aber nur keine Sorge, sobald wir verkündet haben, daß Sie anwesend sind, und sobald Sie aufstehen, werden alle Sie ganz deutlich hören und sehen.«
    Obwohl der Tisch, zu dem sie mich führte, in einer Ecke stand, sah ich nicht, weshalb dieser Tisch unauffälliger sein sollte als einer der anderen. Sie zeigte mir meinen Platz, und dann, nachdem sie lachend etwas gesagt hatte – was ich wegen des allgemeinen Trubels nicht verstehen konnte -, eilte sie

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