Die Ungetroesteten
Frühstück und goß mir von Zeit zu Zeit etwas von dem starken Kaffee in meine Tasse. Als dann Stephan Hoffman in dem Raum erschien, befand ich mich in einem Zustand, der einer Stimmung ruhiger Gelassenheit sehr nahe kam.
»Guten Morgen, Mr. Ryder«, sagte der junge Mann und kam lächelnd auf mich zu. »Ich habe gehört, daß Sie gerade heruntergekommen sind. Ich will Sie nicht beim Frühstück stören, also bleibe ich nicht lange.«
Er blieb in zögernder Haltung neben meinem Tisch stehen, das Lächeln immer noch auf dem Gesicht, und wartete offensichtlich darauf, daß ich zu sprechen anfing. Erst da fiel mir unsere Abmachung vom Vorabend wieder ein.
»Ach ja«, sagte ich. »Der Kazan. Ach ja.« Ich legte mein Buttermesser weg und sah ihn an. »Es ist natürlich eines der schwierigsten Stücke, die je für Klavier komponiert wurden. In Anbetracht der Tatsache, daß Sie gerade erst begonnen haben, es einzustudieren, war es kaum eine Überraschung für mich, noch gewisse rauhe Ecken und Kanten gehört zu haben. Aber das war auch schon alles, einfach nur ein paar rauhe Ecken und Kanten. Bei dem Stück bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als Zeit zu investieren. Viel Zeit.«
Ich schwieg wieder. Das Lächeln war aus Stephans Gesicht gewichen.
»Aber im großen und ganzen«, fuhr ich fort, »und so etwas sage ich nicht leichtfertig, hatte ich den Eindruck, daß Ihr Vortrag gestern abend außerordentlich vielversprechend war. Vorausgesetzt, Sie haben genügend Zeit, bin ich sicher, daß Ihnen selbst von diesem schwierigen Stück eine wirklich angemessene Interpretation gelingen wird. Die Frage ist natürlich...«
Doch der junge Mann hörte gar nicht mehr zu. Er kam noch einen Schritt näher und sagte:
»Ich muß das noch einmal ganz genau hören, Mr. Ryder. Sie sagen, Übung ist alles, was fehlt? Es ist im Rahmen meiner Möglichkeiten?« Plötzlich verzerrte sich Stephans Gesicht, sein Körper sackte nach vorn, und er hämmerte mit der Faust auf sein hochgerecktes Knie. Dann richtete er sich auf, holte tief Luft und strahlte vor Freude. »Sie haben ja keine Ahnung, Mr. Ryder, überhaupt keine Ahnung, was mir das bedeutet. Was für eine wunderbare Ermutigung, Sie haben ja keine Ahnung! Ich weiß, das klingt jetzt nicht sehr bescheiden, aber ich habe es immer gespürt, tief innen habe ich es immer gespürt, daß es in mir steckte. Aber Sie das sagen zu hören, ausgerechnet Sie, mein Gott, das bedeutet mir so unsagbar viel! Gestern abend, Mr. Ryder, habe ich weiter und immer weiter gespielt. Jedesmal, wenn ich spürte, daß Müdigkeit mich überwältigte, immer wenn ich in Versuchung war aufzuhören, sagte eine kleine Stimme in mir: ›Nur mit der Ruhe. Vielleicht ist ja Mr. Ryder noch draußen. Vielleicht braucht er noch ein kleines bißchen länger, um sich ein Urteil zu bilden.‹ Und ich habe immer noch mehr gegeben, habe alles gegeben, ich habe weiter und immer weiter gespielt. Als ich geendet hatte, etwa vor zwei Stunden, bin ich, ich muß es gestehen, zur Tür gegangen und habe hinausgeschaut. Und natürlich mußte ich feststellen, daß Sie zu Bett gegangen waren – wirklich sehr vernünftig. Aber es war sehr freundlich von Ihnen, tatsächlich so lange zu bleiben. Ich hoffe bloß, Sie haben meinetwegen nicht zu viel von Ihrem Schlaf geopfert.«
»Oh, nein, nein. Ich habe... eine gewisse Zeit an der Tür gestanden. Lange genug, um mir ein Urteil zu bilden.«
»Das war so nett von Ihnen, Mr. Ryder. Ich fühle mich wie ein vollkommen anderer Mensch heute morgen. Die Wolken über meinem Leben haben sich aufgelöst!«
»Aber bitte, Sie sollten jetzt keinen falschen Eindruck bekommen. Ich meine einfach, daß Ihr Talent für das Stück ausreicht. Aber ob Ihnen genug Zeit bleibt bis...«
»Ich werde es schon einzurichten wissen, genug Zeit zu haben. Ich werde jede nur mögliche Gelegenheit nutzen, um mich an das Klavier zu setzen und zu üben. Schlafen wird dann Nebensache sein. Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Ryder. Ich werde meinen Eltern Ehre machen morgen abend.«
»Morgen abend. Ach ja...«
»Ach je, da rede ich ganz egoistisch nur von mir, und habe noch nicht einmal erwähnt, wie sensationell Sie gestern abend angekommen sind. Beim Abendessen, meine ich. Alle reden darüber, überall in der ganzen Stadt. Es war wirklich eine ganz reizende Ansprache.«
»Danke. Freut mich, daß sie gut aufgenommen wurde.«
»Und ich bin sicher, sie hat ganz enorm dazu beigetragen, die Stimmung für das zu schaffen,
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