Die Ungetroesteten
Traurigkeit überwältigte. »Aber Mr. Hoffman« – mit Mühe brachte ich meine Stimme wieder unter Kontrolle -, »da gibt es ein kleines Problem. Mein Junge, Boris, er ist jetzt hier bei mir im Hotel, und...«
»Ach ja, und der junge Mann ist uns auch höchst willkommen. Ich habe mich um die Angelegenheit gekümmert, und er ist jetzt in die 342, direkt neben Ihnen, verlegt worden. Tatsächlich hat sich Gustav heute morgen schon um den Umzug des jungen Mannes gekümmert. Also gibt es nichts, worum Sie sich Sorgen machen müßten. Gehen Sie dann bitte nach dem Frühstück in die 343. Sie werden dann Ihr ganzes Gepäck dort finden. Es ist nur eine Etage höher, und ich bin überzeugt, das Zimmer wird weit mehr nach Ihrem Geschmack sein. Aber wenn Sie nicht damit zufrieden sind, lassen Sie es mich bitte umgehend wissen.«
Ich dankte ihm und legte den Hörer wieder auf. Dann stieg ich aus dem Bett, schaute mich noch einmal um und holte tief Luft. Im Morgenlicht sah mein Zimmer gar nicht nach etwas Besonderem aus – einfach nur ein typisches Hotelzimmer -, und mir kam der Gedanke, daß ich mich dem Zimmer tatsächlich in unziemlicher Weise verbunden fühlte. Doch während ich duschte und mich dann anzog, mußte ich feststellen, daß ich inzwischen doch wieder recht sentimental geworden war. Dann plötzlich schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich, noch bevor ich zum Frühstück ging, noch bevor ich sonst irgend etwas tat, mich überzeugen sollte, ob mit Boris alles in Ordnung war. Soweit ich wußte, saß er in diesem Augenblick allein in seinem neuen Zimmer, und das in einem Zustand gehöriger Orientierungslosigkeit. Ich zog mich schnell fertig an, und nachdem ich mich noch ein letztes Mal umgeschaut hatte, verließ ich das Zimmer.
Ich ging den Korridor auf der dritten Etage entlang und suchte noch nach der 342, als ich ein Geräusch hörte, und da sah ich, daß Boris mir vom hintersten Ende des Korridors entgegenrannte. Irgendwie rannte er merkwürdig, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Dann sah ich, daß er mit den Händen Bewegungen wie am Lenkrad eines Wagens machte, und ich nahm an, er spielte Rennfahrer. Wütend tuschelte er einem imaginären Beifahrer zu seiner Rechten etwas zu und schien mich nicht zu bemerken, als er an mir vorbeiwirbelte. Eine Tür weiter unten auf dem Korridor stand weit offen, und als sich Boris ihr näherte, schrie er: »Aufgepaßt!« und bog scharf ab in das Zimmer hinein. Dort ahmte er dann das Geräusch von zusammenstoßenden Gegenständen nach. Ich ging zur Tür, und nachdem ich mich überzeugt hatte, daß es tatsächlich die 342 war, trat ich hinein.
Ich sah Boris auf dem Bett, er lag auf dem Rücken und hatte beide Füße hoch in die Luft gereckt.
»Also Boris«, sagte ich, »du solltest hier nicht so herumlaufen und schreien. Das ist hier schließlich ein Hotel. Es könnte ja sein, daß die Leute noch schlafen.«
»Schlafen! Um diese Zeit!«
Ich schloß die Tür hinter mir. »Du solltest nicht solchen Krach machen. Die Leute werden sich beschweren.«
»Dann habe ich eben Pech gehabt. Ich gehe dann zu Großvater, der wird sich schon darum kümmern.«
Er hatte die Füße immer noch in die Luft gereckt, und jetzt begann er lustlos die Schuhe aneinanderzuschlagen. Ich nahm mir einen Stuhl und sah ihm eine Weile zu.
»Ich muß mit dir reden, Boris. Ich meine, wir müssen miteinander reden, wir beide. Das wäre gut für uns. Du mußt doch so viele Fragen haben. Über all das hier. Und wieso wir hier in diesem Hotel sind.«
Ich schwieg und wartete ab, ob er irgend etwas sagen würde. Boris schlug weiter die Schuhe in der Luft zusammen.
»Du hast bis jetzt sehr viel Geduld gehabt, Boris«, fuhr ich fort. »Aber ich weiß, daß es da alles mögliche gibt, was du mich fragen möchtest. Tut mir leid, wenn ich immer zu beschäftigt war, mich mit dir hinzusetzen und darüber zu reden. Und das mit gestern abend tut mir auch leid. Das war ziemlich enttäuschend, für uns beide. Du mußt doch so viele Fragen haben, Boris. Manche werden sich nicht so einfach beantworten lassen, aber ich will es versuchen, so gut ich eben kann.«
Während ich das sagte – vielleicht hatte das mit meinem alten Zimmer zu tun und mit der Vorstellung, daß ich es jetzt womöglich für immer hinter mir gelassen hatte -, kam ein intensives Gefühl des Verlustes in mir hoch, und ich mußte einen Moment lang innehalten. Boris schlug noch eine Weile die Füße gegeneinander. Dann schienen seine Beine
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