Die Ungetroesteten
mir das ist. Ich bin nämlich in einer ganz schön verzwickten Situation.«
Vor lauter Aufregung war der junge Mann immer schneller geworden. Der Korridor machte eine Biegung und wurde sehr dunkel, so dunkel, daß ich, während wir weiterliefen, mehr als einmal die Hand ausstrecken mußte, weil ich fürchtete, vor die eine oder andere Wand zu laufen. Abgesehen vom hinteren Teil des Korridors, in den durch die zur Halle führenden Glastüren etwas Licht fiel, schien es keinerlei Beleuchtung zu geben. Ich nahm mir fest vor, das Thema Hoffman gegenüber zu erwähnen, wenn ich ihn das nächste Mal sah, als Stephan sagte: »Ach, da sind wir ja«, und dann stehenblieb. Da merkte ich, daß wir vor der Tür zum Salon standen.
Stephan klirrte mit weiteren Schlüsseln, und als sich die Tür endlich öffnete, sah ich dahinter weiter nichts als Schwärze. Doch der junge Mann ging zielstrebig in den Raum hinein, dann streckte er den Kopf wieder hinaus auf den Korridor.
»Geben Sie mir bitte einen kleinen Moment, um die Partitur zu finden«, sagte er. »Sie ist irgendwo in der Klavierbank, aber da herrscht eine solche Unordnung.«
»Nur keine Sorge, ich gehe erst weg, wenn ich mir meine Meinung gebildet habe.«
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mr. Ryder. Also, ich brauche nur einen kleinen Moment.«
Mit einem Krachen fiel die Tür zu, und ein paar Minuten lang herrschte Stille. Ich blieb in der Dunkelheit stehen und schaute von Zeit zu Zeit ans Ende des Korridors und auf das Licht aus der Halle.
Dann endlich begann Stephan mit dem Anfangssatz der Glass Passions . Nach den ersten paar Takten wurde mir bewußt, daß ich mit ständig anwachsender Aufmerksamkeit zuhörte. Es wurde sofort deutlich, daß der junge Mann alles andere als vertraut mit dem Stück war, und doch konnte ich da, unter all der Unsicherheit und Steifheit, eine Ahnung von Originalität und subtilem Gespür wahrnehmen, die mich ganz und gar überraschte. Selbst in seiner jetzigen Form schienen sich in dem Kazan-Stück durch den jungen Mann gewisse Dimensionen zu eröffnen, die man in der Mehrzahl der Interpretationen bisher nicht gekannt hatte.
Ich beugte mich näher zur Tür vor und bemühte mich, auch noch die verhaltenste Nuance seines Spiels einzufangen. Doch dann überwältigte mich gegen Ende des Satzes wieder die Müdigkeit, und mir fiel ein, wie spät es schon war. Ich dachte, daß es keinen Grund mehr gab, noch weiter zuzuhören – wenn der junge Mann nun genügend Zeit hatte, reichte sein Talent für den Kazan eindeutig aus -, und so machte ich mich langsam auf den Weg Richtung Halle.
2
ELF
Ich wurde vom Klingeln des Telefons auf dem Nachttischchen geweckt. Mein erster Gedanke war, daß man mich schon wieder nach nur ein paar Minuten störte, aber dann erkannte ich am Licht, daß es längst schon Morgen war. Ich nahm den Hörer ab, und ganz plötzlich war ich besorgt, ich könnte verschlafen haben.
»Ach, Mr. Ryder«, drang Hoffmans Stimme zu mir. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«
»Danke, Mr. Hoffman, ich habe ausgezeichnet geschlafen. Aber natürlich war ich gerade dabei aufzustehen. Da ein so geschäftiger Tag vor mir liegt« – ich lachte auf -, »ist es höchste Zeit, einen Anfang zu finden.«
»Ganz genau, Mr. Ryder, und was für ein Tag da vor Ihnen liegt! Ich habe vollstes Verständnis dafür, daß Sie um diese Tageszeit Ihre Kräfte so weit wie möglich schonen wollen. Sehr klug von Ihnen, wenn ich das sagen darf. Und besonders, nachdem Sie uns gestern abend so viel von sich gegeben haben. Ach, das war eine herrlich komische Ansprache! Die ganze Stadt spricht heute vormittag von nichts anderem! Na jedenfalls, da ich wußte, daß Sie um diese Zeit aufstehen wollten, Mr. Ryder, dachte ich, daß ich Sie anrufe und über die Lage informiere. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß die 343 jetzt ganz fertig ist. Darf ich vorschlagen, daß Sie das Zimmer sofort belegen? Ihr Gepäck wird, wenn Sie nichts dagegen haben, hinübergebracht werden, während Sie beim Frühstück sind. Die 343 wird, da bin ich ganz sicher, weit zufriedenstellender sein als Ihr jetziges Zimmer. Ich möchte mich noch einmal für diesen Fehler entschuldigen. Ich bin ganz betrübt, daß das passieren konnte. Aber wie ich ja wohl gestern abend erklärt habe, ist es zuweilen recht schwierig, diese Dinge richtig einzuschätzen.«
»Ja, ja, ich verstehe vollkommen.« Ich schaute mich im Zimmer um und spürte, wie mich allmählich heftigste
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