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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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müde zu werden, und er ließ sie auf das Bett fallen. Ich räusperte mich und sagte dann:
    »Also, Boris. Wo sollen wir anfangen?«
    »Solar Man!« kreischte Boris plötzlich und sang laut die ersten paar Takte irgendeiner Titelmelodie. Damit ließ er sich krachend fallen und verschwand in dem Spalt zwischen Bett und Wand.
    »Ich will ernsthaft mit dir reden, Boris. Um Himmels willen. Wir müssen über diese Dinge reden. Bitte komm da raus, Boris.«
    Es kam keine Antwort. Ich seufzte und stand auf.
    »Also Boris, du sollst wissen, daß du einfach fragen kannst, wann immer du etwas fragen willst. Ich lasse alles stehen und liegen, ganz egal, was ich gerade tue, und werde über alles mit dir sprechen. Selbst wenn ich mit Leuten zusammen bin, die sehr wichtig zu sein scheinen, sollst du wissen, daß sie mir nicht wichtiger sind als du. Hörst du mich, Boris? Boris, komm da raus.«
    »Ich kann nicht. Ich kann mich nicht bewegen.«
    »Bitte. Boris.«
    »Ich kann mich nicht bewegen. Ich habe mir drei Wirbel gebrochen.«
    »Na schön, Boris. Vielleicht reden wir, wenn es dir bessergeht. Ich gehe jetzt nach unten und werde frühstücken. Hör zu, Boris. Wenn du willst, könnten wir doch nach dem Frühstück in die alte Wohnung gehen. Wenn du willst, können wir das machen. Wir gehen hin und holen dann die Schachtel. Die mit der Nummer Neun.«
    Es kam immer noch keine Antwort. Ich wartete noch eine Weile und sagte dann: »Also, denk darüber nach, Boris. Ich gehe jetzt nach unten und frühstücke.«
    Damit verließ ich das Zimmer und schloß leise hinter mir die Tür.

    Man wies mir den Weg in einen länglichen, sonnendurchfluteten Raum, der sich an das vordere Ende der Halle anschloß. Die großen Fenster schienen in Höhe des Bürgersteigs auf die Straße zu gehen, doch in den unteren Teil der Fenster hatte man Milchglasscheiben eingesetzt, um eine gewisse Privatsphäre zu gewährleisten, und das Geräusch des draußen vorbeifließenden Verkehrs war nur gedämpft zu hören. Große Palmen und Deckenventilatoren gaben dem Raum ein leicht exotisches Flair. Die Tische waren in zwei langen Reihen aufgestellt worden, und als der Kellner mich den Gang zwischen den Tischreihen entlangführte, fiel mir auf, daß die meisten Tische schon abgedeckt waren.
    Der Kellner wies mir einen Platz ganz hinten zu und schenkte mir etwas Kaffee ein. Als er wegging, sah ich, daß die einzigen anderen Gäste ein spanischsprechendes Paar nahe bei der Tür und ein alter zeitungslesender Mann waren, der einige Tische von mir entfernt saß. Ich nahm an, ich sei womöglich der letzte Frühstücksgast, doch ich hatte ja schließlich auch einen ungewöhnlich anstrengenden Abend hinter mir und sah keinen Grund, mich deshalb irgendwie schuldig zu fühlen.
    Im Gegenteil, während ich dasaß und die Palmen anschaute, die sich unter den rotierenden Ventilatoren sachte wiegten, überkam mich allmählich ein Gefühl der Zufriedenheit. Schließlich und endlich hatte ich Grund genug, mich darüber zu freuen, was ich in der kurzen Zeit seit meiner Ankunft erreicht hatte. Natürlich gab es immer noch etliche Aspekte der Krise hier im Ort, die unklar, ja sogar mysteriös waren. Doch seit meiner Ankunft waren ja noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen, und Antworten auf Fragen würden sich über kurz oder lang einstellen. So würde ich etwa ein wenig später der Gräfin einen Besuch abstatten, wo ich nicht nur Gelegenheit haben würde, durch die alten Grammophonplatten meine Erinnerungen an Brodskys Arbeit aufzufrischen, sondern auch mit der Gräfin wie dem Bürgermeister die ganze Krise in allen Einzelheiten zu besprechen. Dann war da noch das Treffen mit den Bürgern, die von den gegenwärtigen Problemen ganz unmittelbar betroffen waren – ein Treffen, dessen Bedeutung ich Miss Stratmann gegenüber am Vortag betont hatte -, und die Begegnung mit Christoff selbst. Mit anderen Worten, einige meiner wichtigsten Termine lagen noch vor mir, und es war zwecklos, in diesem Stadium schon Schlußfolgerungen ziehen und auch nur daran denken zu wollen, meiner Rede die endgültige Form zu geben. Vorläufig konnte ich völlig zu Recht zufrieden sein mit der Menge an Informationen, die ich bereits aufgenommen hatte, und konnte mir gewiß einige Minuten gelockerter Entspannung gönnen, während ich frühstückte.
    Der Kellner kam zurück und brachte Aufschnitt, verschiedene Käsesorten und einen Korb mit frischen Brötchen, und ich begann in aller Ruhe mit dem

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