Die Unschuld der Rose
unglaublich. Dein Vater hintergeht und betrügt dich, und was tust du? Du sagst ihm, dass du ihn liebst! Er verdient deine Liebe nicht!“
„Jeder verdient es, geliebt zu werden.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Es tut mir leid. Du hasst emotionale Szenen. Heute warst du gleich einer Überdosis ausgesetzt. Es muss ein Albtraum für dich gewesen sein. Wie geht es deiner Hand?“
„Alles in Ordnung. Und der heutige Tag ist nichts im Vergleich zu letzter Woche“, erwiderte er ihr und zog sie auf seinen Schoß. „Im Moment deiner Abreise ist mir klar geworden, dass ich dich nie hätte gehen lassen dürfen. Unter gar keinen Umständen hättest du deinem Vater alleine gegenübertreten dürfen.“
„Es war mein Kampf, Rafael.“ Jetzt war ihr nicht mehr nach kämpfen zumute. Deshalb kuschelte sie sich an ihn und schmiegte sich in seine tröstende Umarmung. „Bist du mir deshalb gefolgt?“
„Ja.“ Rafael legte einen Finger unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Und dann musste ich herausfinden, dass du verschwunden warst.“
„Ich war völlig außer mir, als ich die Zeitung gesehen habe. Ich weiß, du hasst Gespräche über Gefühle. Aber du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, von der eigenen Familie verraten zu werden.“
Ein langes Schweigen trat ein.
„Doch, das habe ich“, widersprach Rafael schließlich heiser. „Ich weiß genau, wie sich das anfühlt.“
Sie setzte sich aufrecht hin. „Ich dachte, du hättest keine Familie? Hat dich dein Vater auch verraten?“
„Mein Vater hat mich schon vor meiner Geburt verraten, indem er meine Mutter verließ.“ Nachdem er Grace sanft von seinem Schoß geschoben hatte, stand er auf und ging zum Fenster hinüber. „Bis ich acht Jahre alt war, hat sie mich alleine aufgezogen.“
Instinktiv spürte Grace, dass er endlich bereit war, über seine inneren Dämonen zu sprechen. „Du hast deine Mutter nie erwähnt. Habt ihr in Rio gelebt?“
„Ja.“ Ein kaltes und hartes Funkeln trat nun in seine Augen. „In einem winzigen Raum, der kaum Platz genug für eine Person bot, geschweige denn für zwei. Es war ein furchtbares Leben. Und dann hat meine Mutter einen neuen Mann kennengelernt.“
„Sie hat sich verliebt?“
Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. „Immer noch die unverbesserliche Romantikerin“, spottete er. „Nein, meu amorzinho , Liebe war es nicht. Aber der Mann war wohlhabend, und eine Ehe hätte ihren Lebensstil enorm verbessert. Es gab nur ein Problem. Er wollte nicht das Kind eines anderen großziehen.“
Entsetzt sah Grace ihn an. „Das hat er dir gesagt?“
„Ich habe ein Gespräch der beiden belauscht. Sie sprachen darüber, einen Platz im örtlichen Waisenhaus für mich zu finden.“
„Deine Mutter hat dich in ein Waisenhaus abgeschoben?“
„Nein, das habe ich nicht zugelassen. Ich bin weggelaufen.“ Er lächelte sarkastisch. „Siehst du, selbst im zarten Alter von acht Jahren war ich fest entschlossen, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“
„Was hast du getan? Wohin bist du gegangen?“
„Ich habe Geld aus seinem Portemonnaie gestohlen, meine Tasche gepackt und bin in einen Bus eingestiegen. Ich bin so lange gefahren, wie das Geld gereicht hat.“ Seine Stimme klang tonlos, ohne eine Spur von Gefühlen. „Dann bin ich ausgestiegen und neben der Straße stehen geblieben. Erst da ist mir klar geworden, dass ich weder zu essen noch zu trinken hatte, noch einen Platz zum Schlafen.“
Grace’ Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Du musst große Angst gehabt haben.“
„Nun, ich dachte, wenn ich noch länger am Straßenrand stehen bleibe, kommt vielleicht jemand vorbei und bringt mich zurück nach Rio. Darum bin ich in den Regenwald gelaufen.“
„In den Regenwald?“, wiederholte sie erschrocken und erinnerte sich an die halbe Stunde, die sie dort ohne ihn verbracht hatte. „Du bist mit acht Jahren alleine in den Dschungel gegangen? Aber dort lauern so viele Gefahren. Schlangen und Spinnen und …“
„Schlangen und Spinnen haben mich nie gestört. Nur die Ameisen und die Geräusche habe ich anfangs gehasst.“
„Anfangs? Wie lange bist du dort geblieben?“
„Einen Monat.“
Grace stand auf. „Aber du warst ein kleines Kind, Rafael. Wie hast du überlebt? Was hast du gegessen und getrunken?“
Müde zuckte er die Schultern. „Früchte, Beeren. Ich habe Wasser getrunken, das vielleicht nicht sauber war. Zum Glück bin ich nicht krank geworden. Allerdings
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