Die unsicherste aller Tageszeiten
Rücken, Tim halb auf meiner Brust. Mit seinen Armen hielt er mich fest umschlungen, als hätte er Angst, ich könnte zusammen mit dem Tageslicht im Dunkel der Nacht verschwinden. Einer seiner Arme drückte mir dabei unangenehm ins Kreuz, trotzdem sagte ich lieber nichts, denn ich wäre jetzt wirklich gern dem Licht gefolgt, um nicht von den Gedanken, von denen ich wusste, dass er sie wälzte, zermalmt zu werden. Er sollte sich bloß nicht in irgendeiner Art und Weise aufgefordert fühlen, sie auszusprechen, also verhielt ich mich still. Würde es mir gelingen, die Stille zwischen uns zu bewahren, hoffte ich, dann würde er es auch bis zum Ende nicht wagen, das Unmögliche, das er sich wünschte, zu artikulieren. Vergebens, die Gedanken wogen so schwer, dass er von sich aus anfing.
»Morgen fahre ich wieder«, begann er mit Grabesstimme. »Ich will nicht.«
Ich fragte nicht, was er stattdessen wollte.
»Ich will lieber bei dir bleiben, Arno. Am liebsten für immer.« Er verstärkte noch die Umklammerung seiner Umarmung.
Ich atmete tief ein und aus und fragte nicht, warum.
»Ich liebe dich«, flüsterte er so leise, als würde ihm bei diesen Worten bereits das Herz brechen.
Ich schwieg eisern weiter, und dieses Mal brachte meine Weigerung, ihm eine Antwort zu geben, auch ihn zum Schweigen. Doch seine Sprachlosigkeit lastete noch viel stärker auf meinem Gewissen, als es jedes seiner Bekenntnisse jemals hätte tun können. Die Schäbigkeit meines Verhaltens, meine Unehrlichkeit, dass ich ihn letztendlich nur benutzt hatte, selbst dann noch, als ich schon wusste, was in ihm vorging, kam darin besonders gut zur Geltung. Tim hatte seinen Punkt klargemacht, er hatte sich mir offenbart und sich mir so vollkommen ausgeliefert, vollkommen vertrauensvoll. Für mich aber gab es kein Zurück mehr, ich hatte ihm in der Zwischenzeit so viele Lügen aufgetischt, um meine Identität zu schützen, wie ich mir immer wieder einredete, dass es ihn jetzt nur umso tiefer verletzt hätte, hätte er ausgerechnet in diesem Moment die Wahrheit erfahren. Denn es stimmte ja wirklich nichts, nicht einmal die rudimentärsten Informationen, die ich ihm über mich gegeben hatte. Ich hieß nicht Arno, ich arbeitete nicht bei der Stadtsparkasse Braunschweig, das Haus hier gehörte nicht meinem reichen Onkel, der es in Amerika zu was gebracht hatte. Ich hatte nur ein bisschen Sex haben wollen und er, Tim, war einfach das leckerste erreichbare Stück Kuchen gewesen – was hätte diese Nachricht in ihm ausgelöst? Vielleicht Hass, später vielleicht, wenn der erste Schmerz über die Abweisung, die Zurückweisung seiner Liebe abgeklungen sein mochte. In diesem Moment fürchtete ich jedoch eher seine Vergebung, dass er versuchen könnte, alles in ein für uns beide günstiges Licht zu rücken, Gründe dafür zu finden, warum ich ihn jeden Tag hatte sehen, mit ihm hatte schlafen wollen. Ich wusste, wie er argumentieren würde – so etwas mache man nur, wenn man auch etwas für den anderen empfinde et cetera –, denn ich hatte damals, nach dem Ende mit Karsten, selbst so gedacht. Er war in diesem Moment so verliebt in mich wie ich damals in Karsten, ich war Tims erste große Liebe, und für die ist man bereit, selbst noch die gemeinste Demütigung zu verzeihen.
Ich wollte auf keinen Fall, dass er mir verzieh, ich wollte, dass er mich einfach meiner Wege ziehen ließ, egal, wie schwer das für ihn sein mochte und wie sehr ich herumlavieren musste, um ohne eigenen Schaden aus der Geschichte zu kommen.
»Glaub mir«, sagte ich endlich, nachdem der Druck auf meinen Brustkorb unerträglich geworden war und Tim sich nicht einfach so in Luft aufgelöst hatte wie ein harmloser Tagtraum, »das könnte niemals funktionieren. Du bist ein Schüler aus Bochum, ich arbeite Vollzeit in Braunschweig. Wir würden uns ja niemals sehen.«
Ich hatte so sanft wie möglich gesprochen und ihm dabei zur Beruhigung noch das verschwitzte Haar gekrault, dennoch trieb es ihn sofort auf die Barrikaden beziehungsweise Ellbogen:
»Ich würde dich jedes Wochenende in Braunschweig besuchen kommen!«
»Ach? Wirklich? Und wovon willst du das bezahlen?›
»Ich hab einiges gespart.«
»Damit wäre das also geklärt.« Ich dosierte meinen aufkeimenden Sarkasmus so, dass es wirkte, als hielte ich seine Naivität für liebenswert. »Und was würdest du deinen Eltern sagen?«, fuhr ich fort. »Glaubst du wirklich, die würden dich kommentarlos jedes Wochenende nach Braunschweig
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