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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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erzeugen.
    Ob mich jemand bemerkt hat? Sitzt an irgendeinem der anderen Tische jetzt irgendein Idiot und feixt, weil er Zeuge meiner kleinen, vermutlich auch wirklich filmreifen Schwäche geworden ist? Ich werfe einen Blick in die Runde, die Augen schon reflexartig zu bösen kleinen Schlitzen verengt, um jedes Lachen über mich sofort abzutöten. Aber ich kann mich gleich wieder beruhigen, niemand hat mich gesehen, ich sitze sogar nahezu allein, unbeachtet und vergessen in der Cafeteria. Die Passagiere sind, mieses Wetter hin oder her, größtenteils an Deck gegangen, um von dort zuzuschauen, wie sich langsam die Insel Föhr aus dem Niesel und Dunst des Herbstnachmittages schält, als sei dies nicht irgendeine ordinäre Fähre, die mehrmals täglich zwischen Fest- und Eiland hin- und herpendelt, sondern als handle es sich um kein geringeres Schiff als die Santa Maria des Herrn Kolumbus und bei der Insel um San Salvador. Futter für meine Theorie über das Verdummungspotenzial von Urlaubsreisen. Vom Personal, ein paar alten Leuten, die ohnehin schon alles gesehen haben oder deren Star noch grauer ist als der Himmel draußen, und einer jungen Mutter, die ihr Baby stillt, einmal abgesehen, bin ich der letzte Gast in dieser schwimmenden Schenke mit dem Charme einer Autobahnraststätte oder Werkskantine.
    Ich gönne mir noch ein zweites Heißgetränk, dieses Mal eine Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch und etwas zu viel Zucker, dann setze ich mich zurück an meinen Platz. Ich habe diese Überfahrt oft genug gemacht, um zu wissen, dass es noch ein Weilchen dauert, bis wir anlegen. Durch das Panoramafenster starre ich in das diesige, feuchte Licht.
    Meine kleine Affäre mit Tim fand bei ganz ähnlichem Wetter ihr endgültiges Ende. Es sollte der einzige trübe Tag eines ansonsten von ungewöhnlich lang anhaltendem Sonnenschein und milden Temperaturen geprägten Aufenthalts sein. Für Tim jedoch noch wesentlich trüber als für mich. Bis dahin hatten wir uns beinahe eine ganze Woche lang jeden Tag gesehen und immer hemmungsloseren Sex gehabt. Er lernte mit jedem Tag dazu und vergaß darüber seine kleinen Ängste und anerzogenen Vorbehalte; mich entfesselte der Gedanke, den Vater zugunsten des Sohnes verlassen zu haben. Außerdem penetrierten mich ebenso wie Tims Schwanz meine Schuldgefühle darüber, es ausgerechnet in Klaus’ Ferienbett zu treiben mit dieser Eroberung, die für mich nichts weiter war als ein unbedeutendes Abenteuer, und bauten meinem Genuss ein betonhartes Fundament aus Scham und Schmerz, was mir den Gedanken erlaubte, auf diese Weise gleich für meine neuerliche Schandtat zu bezahlen – und es doppelt genoss.
    Offiziell unternahm Tim jeden Tag eine einsame Radtour kreuz und quer über die Insel – und sein Vater nachts immer lange Spaziergänge – ob die Frau und Mutter die Parallelen wirklich nicht erkannte? –, inoffiziell verliebte er sich unsterblich in mich. Ich ließ es zu, verriet meinen Standpunkt nicht einmal auch nur ansatzweise, weil ich viel zu großen Gefallen an der Routine dieser lustvollen Begegnungen fand. Wir hatten zwei bis drei Stunden, dann musste er zurück, um keinen Verdacht zu erregen, und ich aus dem Haus, weil mir mein eigenes Treiben darin schon wieder über den Kopf wuchs, weil Wände und Decken auf mich einzustürzen schienen und aller Sauerstoff verbraucht. So sorgte der Zeitdruck noch für zusätzlichen Antrieb, und wir vögelten, als gäbe es kein Morgen. Gab es ja auch wirklich nicht, nur sah Tim das nicht. Alles, was er begriff, war die schreckliche Tatsache, dass ihm die eigene Abreise wie das Beil der Guillotine im Nacken saß, dass jeder Tag, der verstrich, einen Tag weniger Romanze bedeutete. Aber natürlich hatte er sich schon längst Gedanken darüber gemacht, wenn er nachts schlaflos in seinem Bett lag, vielleicht halb verträumt an sich herumspielte, das herrliche Gefühl der Berührung durch eine fremde Hand heraufzubeschwören suchte und sich den Kopf darüber zerbrach, wie sich das absehbare Ende vermeiden, aufhalten oder umgehen ließ. Es ist wohl nicht weiter verwunderlich, dass seinem naiven Verstand auch tatsächlich eine mögliche Lösung des Problems einfiel – und dass diese der seines Vaters durchaus ähnlich war. Er präsentierte sie mir gleich nach unserem letztmöglichen Schäferstündchen, und ich verstand es nur als Quittung für mein grausames Treiben mit ihm.
    Erschöpft und noch ganz feucht lagen wir zwischen Decke und Laken, ich auf dem

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