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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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nicht mehr zu ihm um.
    Ich sah Tim nur ein einziges Mal wieder, nachdem er davongelaufen war, tränenüberströmt und ungeduscht. Zusammen mit ihm verschwand auch ein kleiner, aus Treibholz geschnitzter Wal, den Klaus, der auf derlei Nippes – Kunsthandwerk in seinen Augen – stand, lange vor meiner Zeit einmal gekauft hatte. Ersatz konnte ich natürlich nicht besorgen, also erfand ich für meinen Freund und Mäzen die Geschichte eines Missgeschicks, um das Verschwinden der Figur plausibel erscheinen zu lassen. Anstelle der Schnitzerei durfte ich dafür Tims Unterhose behalten, die er mir, ob nun absichtlich oder nicht, in seiner Eile dagelassen hatte. Nur sammle ich keine Andenken an Kerle, also warf ich sie am nächsten Tag in den Müll, gleich nach seiner Abreise. Und er war abgereist, ich hatte es aus sicherer Entfernung und Deckung heraus beobachtet. Der ganzen Familie schickte ich ein erleichtertes Gott sei Dank nach, als die Fähre endlich ablegte. Tims Vater – jetzt war die Ähnlichkeit unverkennbar –, dem das Entsetzen, das seinen Namen nicht nennen darf, ins Gesicht geschrieben stand, seiner Mutter, die besorgt und müde dreinblickte nach einer vermutlich langen schlaflosen Nacht, seinen beiden kleinen Geschwistern, die einfach nur verstört wirkten, und natürlich Tim selbst, der, obwohl zutiefst verletzt, nicht anders konnte, als unentwegt den Hafen nach mir abzusuchen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt wie alles andere auch.
    Er ging zu Fuß an Bord und sofort an Deck, wo er sich ans Heck an die Reling stellte und aus mit jeder Sekunde leerer werdenden Augen zurückschaute. Er stand da ganz einsam und verlassen, nicht einmal ein anderer Tourist mochte sich bei dem Mistwetter ahnungslos ob der Tragödie in seinem Innern zu ihm gesellen, bis die Leinen gelöst wurden und die Fähre zu ihrer kurzen Überfahrt in See stach.
    Plötzlich trat Jürgen von hinten an Tim heran und, nach einem kurzen Zögern, in dem die große Hand unschlüssig, ob sie nun ein Damoklesschwert sein wollte oder doch Versöhnung, in der Luft geschwebt war, sanft auf Tims Schulter nieder. Der schauderte erschrocken zusammen, mochte seinen Vater nicht ansehen, bis plötzlich Tränen aus seinen Augen wie Funken sprühten und ein Schluchzen seine Brust und das Herz darin zerriss. Noch einen Moment später, einer der Pietät, und der Vater nahm den Sohn in seine Arme. Eine solche Größe lag in dieser Geste, eine Größe, die ich einem Schrankschwulen wie Jürgen niemals zugetraut hätte und die mich betroffen machte. Zugleich aber blickte Jürgen mit einer unendlichen Traurigkeit zurück auf den kleinen Wyker Hafen. Auch er hatte hier endgültig seine Unschuld verloren, ebenso wie Tim, wie sein Sohn, und zwar ebenfalls an mich. An mich, der ich geduckt zwischen den Autos hockte und zusah, wie beide, weh und verwundet, vom Horizont verschluckt wurden. Ich Nimmersatt hatte ihre Unschuld gefressen, mein Stoffwechsel verwandelte sie in pure Schuld und legte sie mir wie eine schmiedeeiserne Kette um die Hüfte.
    Meine Fähre hat derweil ihr Ziel so gut wie erreicht. Erst nur eine verwaschene schmutzige Schliere am Horizont, ist Föhr gemächlich aus dem Wasser aufgetaucht, hat es sich von einer schönen Vorstellung, einem netten Urlaubstraum zu einer Gewissheit manifestiert, zur Realität, die wir alle gleich betreten werden, um dann endlich wieder, ein jeder für sich, seiner Wege zu gehen. Ich lasse den anderen Passagieren den Vortritt, trinke gemächlich die überzuckerte Plörre aus, die in meiner Kaffeetasse schwappt. Ich sehe die Alten aus der Cafeteria hasten, als hätten sie Angst, gleich wieder mit zurück aufs Festland fahren zu müssen, wenn sie nicht schnell genug sind, und die junge Mutter ihr sattes und schlafendes Baby warm einpacken, bevor sie den rasenden Rentnern folgt. Ich binde mir, nachdem der letzte Schluck heruntergewürgt ist, das neue grüne Tuch um den Hals und greife nach meiner Jacke. Das Cafeteriapersonal klappert zum Abschied mit dem abzuwaschenden Geschirr und Besteck.

KAPITEL 5
    Eine kleine Erschütterung läuft durch den Schiffs- und die sich darauf befindlichen Menschenkörper – wir haben den Kai erreicht. Kaum ist sie verklungen, erstirbt zusammen mit dem Brummen der Motoren auch das beständige leise Vibrieren, das uns die gesamte Fahrt über begleitet hat und das, mehr als die hinter uns versinkende und irgendwann vor uns wieder auftauchende Küstenlinie, davon zeugt, dass wir uns

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