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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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angesehen hatte, hauptsächlich solche, die während des Prozesses aufgenommen worden waren. Auf denen aber blickte er kein einziges Mal direkt in die Kamera, als hätte er ein Talent dafür, im richtigen Moment wegzuschauen. So blieb mir nur ein Bild aus Kindertagen, dass natürlich der Boulevard aufgetan hatte, doch das zeigte einen kleinen unscheinbaren Jungen mit dunkelblonden, schlecht frisierten Haaren und einem wässrigen Blick, dem man einfach nicht begegnen kann. Auf diesem Bild war der kleine Lutz zu sehen, den der große Lutz schließlich bald komplett auszulöschen trachtete, um fortan, der Metamorphose eines Insekts gleich, nur noch als falscher Adliger Markus vom Haff zu existieren. Und Klaus hatte sich nun einmal nicht in den kleinen und auch nicht in den großen Lutz verliebt, sondern in den ausgedachten Markus. Das Erdachte aber ist zum größten Teil nur Oberfläche, wer wüsste das besser als ein Maler wie ich, also kommt der Oberfläche eine ganz besondere Bedeutung zu, eine Schlüsselstellung, die erst restlos geklärt werden muss, bevor man sich dessen, was eventuell noch darunter sein mag, annehmen kann.
    »Eigentlich sollten die inneren Werte mehr zählen«, gab ich Klaus also zu, um dann schärfer als gewollt auf den Punkt zu kommen: »Aber was haben innere Werte bei einem Betrüger schon für einen Wert? Am Ende sind auch die nur gefälscht.«
    Klaus nahm es hin. Er dachte ein Weilchen nach, dann antwortete er: »Nein, nicht wirklich. Äußerlich ähnelt ihr euch kaum. Als wir uns kennenlernten, war Markus-Lutz ja aber auch schon zehn Jahre älter als du jetzt. Außerdem hat er seinen Körper extrem verändert. Er hatte sich zum Beispiel die Haare gefärbt, blonder, als er von Natur aus war, und damit das nicht weiter auffiel, und es ist mir dann auch wirklich nicht aufgefallen, hat er sich die Haare auf der Brust, in den Achseln und im Schambereich immer sehr sorgfältig abrasiert.«
    »Okay«, nickte ich, den Punkt abhakend. »Und was ist mit dem Gesicht, also den Gesichtszügen? Der Körperhaltung? Gibt es da irgendwelche Ähnlichkeiten?«
    »Nein, das würde ich nicht behaupten wollen. Das mag aber auch wieder daran liegen, dass Markus-Lutz immer extrem penibel auf sein Äußeres geachtet hat und wohl, wie ich mir wiederum erst jetzt eingestehen muss, ebenso auf seine Mimik. Das war immer alles perfekt. Besonders sein Körper, den er mehrmals pro Woche im Fitnessstudio stählte. Da wuchs kein Haar, wo es nicht wachsen sollte, und war kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen.«
    »Das hab ich aber auch nicht«, erinnerte ich ihm und zeigte auf meinen schlanken Leib, der Michelangelo höchstselbst als Vorlage für seinen David gedient haben könnte – auch wenn dann sein Schniedel größer ausgefallen wäre.
    »Stimmt, dein Körper ist großartig.« Und Klaus fuhr mir mit seinen Händen über alle Stellen, die dies seiner Meinung nach ganz besonders unterstrichen. Danach hielt er mich fest in seinen Armen und führte seinen Gedanken nachdenklicher als zuvor zu Ende: »Aber dein Körper ist echter, natürlicher, viel mehr Ausdruck deiner wirklichen Persönlichkeit.«
    »Wie meinst du das?«
    »Er sah immer, wirklich immer picobello aus, selbst wenn er gerade zehn Kilometer Joggen auf dem Laufband hinter sich hatte, wie aus dem Ei gepellt. Nicht einmal dann schien er geschwitzt zu haben. Warum auch, warum sollte er schwitzen? Er hatte es ja nicht für sich getan, für sein leibliches Wohl, sondern für mich. Und für alle anderen. Sport war für ihn so etwas wie die Verblendung seiner Hülle, die Verzierung seiner Fassade. Du dagegen treibst Sport als Ausgleich für deine Malerei, um Kondition dafür aufzubauen – und um deinem kleinen Fleischpinsel da unten auch mal eine Pause von seinen unzähligen Abenteuern zu gönnen.«
    »Der ist nicht klein!«
    »Den einzigen Sport, den du neben deiner exzessiven Malerei noch ausübst, machst du dir daraus, alle anderen Leute ständig vor den Kopf zu stoßen. Du liebst es, ungezogen, ungehobelt und manchmal sogar offen beleidigend zu sein. Und die Leute ertragen das nur, weil du nicht nur ein erfolgreicher Künstler bist, der nun einmal exzentrisch sein darf – und so fällt zumindest ein bisschen von deinem Glanz auch auf sie –, sondern weil du dabei auch noch äußerst witzig und geistreich sein kannst. Du versprühst, gerade wenn du den Flegel raushängen lässt, einen unglaublich jungenhaften Charme, durch den man dir einfach nichts übel

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